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[Ganzseitiges Foto: Eine weiße Rose als Zeichen der Erinnerung. Pastor Karsten Baden-Rühlmann (links) und andere Bad Schwartauer an den Stolpersteinen]


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Stolpersteine in Bad Schwartau

Ein Ort der Erinnerung für die Familie Jaschek

 

An der vielbefahrenen Durchgangsstraße Bad Schwartaus – der August­straße – versammelten sich am 19. August 2004 vor dem Grundstück Nr. 22 etwa siebzig zumeist ältere Menschen. Über eine Stunde standen sie dort zusammen, viele mit Tränen in den Augen, und beobachteten, wie der Kölner Künstler Gunter Demnig vier seiner Stolpersteine verlegte. Die Inschriften auf den kleinen Messingplatten nennen die Namen und Lebensdaten der vierköpfigen Familie Jaschek, die von 1934 bis 1941 als einzige jüdische Familie in Bad Schwartau lebte, zuletzt im hinteren Haus an der Auguststraße 22. Am 6. Dezember 1941 wurde die Familie nach Riga deportiert.

Judith Lucy Jaschek, geborene Hammel, aus Frankfurt am Main war zu jenem Zeitpunkt 40 Jahre alt, ihr Mann Eugen Jaschek aus Hohenlinde im Kreis Beuthen 47, und die beiden in Lübeck geborenen Söhne Jürgen und Jochen zwölf und zehn Jahre alt. Nur ein Familienmitglied überlebte und kehrte 1945 zurück, der dann siebzehnjährige Jürgen. Bis 1948 blieb er in Lübeck, dann emigrierte er in die USA.

Zur Einweihung der Stolpersteine fand am 9. November 2004 eine ergreifende Feierstunde statt, an der Richard J. Yashek – der frühere Jürgen Jaschek – mit seiner Frau Rosalye und seiner Tochter Kimberley teilnahm. Initiatoren und Organisatoren waren die Mitglieder des „Arbeitskreises 27. Januar“ der evangelisch-lutherischen Kirche, ins­besondere Hans Nolte und Christa Wiechmann, Pastor Karsten Baden-Rühlmann und Pas­torin Anne Rahe, der Bürgerverein Bad Schwartaus – hier vor allem Klaus Nentwig – und schließlich die Stadt Bad Schwartau mit ihrem Bürgermeister sowie Politikern und Politikerinnen verschiedener Fraktionen. In der Zu­sammenarbeit zu dieser Angelegenheit spielten die sonstigen Differenzen keine Rolle.

In das Goldene Buch der Stadt schrieb J. Yashek „Für eure Freundschaft danke ich von ganzem Herzen“ und fügte in seiner Rede hinzu: „Mein Leben hat aufgrund eurer Wohltat eine neue Würdigung erfahren. Ihr habt mir geholfen, den dunkelsten Stunden in meinem Leben zu begegnen.“

Dass es zu diesem ganz besonderen Ereignis kommen konnte, hat eine Vorgeschichte, in der zufällige Begegnungen erst die Voraussetzungen schaffen konnten. Nach der Emigration aus Deutschland im [Text fehlt auch im Original, die Red.]


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[ein halbseitiges Foto: Gunther Demig verlegt Stolpersteine für die deportierten Mitglieder der Familie Jaschek]

begann Jürgen Jaschek mit Hilfe von Verwandten in den USA ein neues Leben. Er lernte Englisch und verdrängte die deutsche Sprache, er änderte seinen Namen, er heiratete Rosalye Levine, ihre beiden Töchter Linda und Kim wuchsen auf, und er baute zusammen mit anderen Familienmitgliedern eine große Firma auf. Von seiner Geschichte sprach er nicht, es gab keine Kontakte nach Deutschland.

Erst Anfang der 90er Jahre änderte sich dies. Richard J. Yashek nahm Kontakt zu anderen Überlebenden von Riga auf und fuhr zu ihren Zusammenkünften, und er schrieb seine Erinnerungen auf. Im Dezember 1993 nahm Yashek be­ruflich an einem Kongress in Lübeck teil und suchte bei dieser Gelegenheit mit seiner Frau in Lübeck und Bad Schwartau nach den Orten, an die er sich erinnerte. Es waren traurige Stunden – manche Gebäude existierten nicht mehr. Sie begegneten niemandem, der die Fa­milie Jaschek gekannt hatte.

Doch Jürgen Jaschek war nicht in Vergessenheit geraten. Da war


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zum einen ein früherer Spielgefährte in Bad Schwartau, Hans Nolte, der oft daran dachte, was wohl aus dem „Jungen mit dem gelben Stern“ geworden war. Er beschäftigte sich intensiv mit der Geschichte Bad Schwartaus und wusste auch, dass Jürgen Jaschek in den USA lebte. Zum anderen gab es den Freund aus Kindertagen, Abraham Domb-Dotan, der sich in Israel fragte, was aus Jürgen Jaschek ge­worden sei. Sehr eindringlich stellte er diese Frage auch mir und meiner Kollegin Hildegard Lüder, als wir im Sommer 1993 in Israel nach Spuren anderer jüdischer Kinder aus Lübeck suchten, nach den Geschwistern Prenski.[1]

Die Suche führte uns im Dezem­ber 1993 auch nach Rendsburg, wo Prof. Dr. Wolfgang Scheffler aus Berlin bei einer Akens-Veranstaltung den Vortrag Abgewandert in den Osten... Die Vernichtungsaktionen im Baltikum und das Ende der schleswig-holsteinischen Juden hielt. Im Anschluss fragten wir ihn, ob er auch einen Jürgen Jaschek befragt hatte – nicht ahnend, dass dieser sich zum selben Zeitpunkt in Lübeck aufhielt. Tatsächlich konnte über Scheffler ein Kontakt hergestellt werden, zunächst zwischen den Freunden aus Kindertagen Jürgen Jaschek und Abraham Domb-Dotan, dann zu uns Lehrerinnen der Geschwister-Prenski-Schule.

Die Schule entwickelte nach ihrer Namensgebung vielfältige Aktivitäten; u.a. kam im September 1995 der Bundestagsabgeordnete Winfried Nachtwei aus Münster zu ei­nem Gespräch mit Schülerinnen und Schülern an die Schule und zu dem öffentlichen Vortrag Nachbarn von nebenan – verschollen in Riga ins Lübecker Burgkloster. In der anschließenden Diskussion meldete sich ein älterer Herr zu Wort und fragte nach Jürgen Jaschek. So lernte ich Hans Nolte kennen und konnte ihm mitteilen, dass wir mit Jürgen Jaschek in Briefkontakt stünden.

Die ersten Bemühungen um eine Einladung an Richard J. Yashek durch das Land Schleswig-Holstein bzw. die beiden Heimatstädte gestalteten sich schwierig, doch An­fang 1997 kam dann eine gemein­same Einladung durch Lübeck und Bad Schwartau zustande. Eine weitere zufällige Begegnung darf hier nicht verschwiegen werden: An einem Sonntagmorgen trafen in der sonst leeren Therme in Bad Schwartau die beiden ersten Gäste ein. Hans Nolte suchte sich den Platz, an dem auch Christa Wiechmann gern sitzen wollte. Daher grüßte sie ihn, den sie nur flüchtig kannte. Seine Antwort war verblüffend: „Haben Sie eigentlich Jürgen Jaschek gekannt?“ Sie hatte, und so entstand eine weitere, vielleicht die wichtigste Voraussetzung für die


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Stolpersteine in Bad Schwartau. Ge­meinsam planten Hans Nolte und Christa eine Begegnung aller früheren „Kinder der Auguststraße“ mit Richard J. Yashek, der mit seinem Bruder Jochen ebenfalls zu diesen Kindern gehört hatte. Die Ankündigung dieser Begegnung löste zunächst Ängste aus. Richard J. Yashek wollte den Besuch ab­sagen, seine Frau konnte ihn nur schwer überreden, das Wagnis einzugehen.

Am geplanten Treffen konnte Werner König – eines der „Kinder der Auguststraße“ – nicht teilnehmen. Daher kam es bereits am ers­ten Abend des Besuchs im Mai 1997 zu einer Begegnung der beiden, bei der die Erinnerung an das gemeinsame Spiel mit einer Eisenbahn im Elternhaus von Werner König das Eis brechen konnte. In der großen Runde einige Tage später trugen alle „Kinder der Auguststraße“ ihre Erinnerungen bei. Manche entschuldigten sich für ihr Verhalten, mit dem sie damals Jürgen und Jochen verletzt und ausgegrenzt hatten.

Bei diesem ersten Besuch meldeten sich weitere Menschen, die Jürgen Jaschek und seine Familie nicht vergessen hatten, andere Überlebende aus Lübeck, ein Lehrkollege aus den Jahren 1946–1948. Eine alte Dame kam – nachdem sie am Morgen in der Zeitung vom Besuch Richard J. Yasheks gelesen hatte – in die Geschwister-Prenski-Schule: Sie hatte von 1932 bis 1934 im selben Haus wie die Jascheks in der Ritterstraße in Lübeck gelebt und erinnerte sich an zwei kleine Jungen, die von ihren Eltern stets sehr liebevoll verwöhnt worden waren. In Bad Schwartau waren Richard und Rosalye Yashek zu Gast bei Henri Paetau und seiner Frau. Seine Eltern waren mit Richards Eltern befreundet gewesen, doch nach der Verhaftung und weiteren politischen Verfolgung seines Vaters mussten sie Kontakte vermeiden.

Im Mai 1997 äußerte Richard J. Yashek am Ende einer Woche voller Begegnungen und Gespräche, er fühle sich, als habe er einen Teil seiner Wurzeln wiedergefunden. In den nächsten Monaten übersetzten mein Mann Martin Harnisch und ich seine Erinnerungen ins Deutsche.[2]

 Die Veröffentlichung war An­lass für ein Interview mit mir im NDR, das eine weitere alte Verbindung herstellen konnte: Im Radio hörte Paula Foth, geborene Wittkamp, aus Hamburg den Namen Jürgen Jaschek und fragte sich zu mir durch. Sie hatte ebenfalls in Bad Schwartau gelebt, ihre Schwes­ter Frieda Behrens wohnte einige Zeit im selben Haus wie die Ja­scheks und war mit Frau Jaschek befreundet gewesen. Und diese beiden Schwes­tern waren die bis dahin Unbekannten, die mehrere Male Lebensmittel in den Hausflur


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gestellt hatten, als die Not der Jascheks sehr groß war.

Im Sommer 2000 machten Richard J. und Rosalye Yashek während einer Ostseereise Station in Lübeck und Bad Schwartau, und die Kontakte vertieften und erweiterten sich, da auch ihre Tochter Kim mitkam und weitere Kinder der „Kinder der Augustraße“ in den Kreis einbezogen wurden. Der Bürgerverein Bad Schwartaus hatte mittlerweile mit seinem neuen Vorsitzenden Klaus Nentwig die Initiative ergriffen und Richard J. Yashek als Ehrenmitglied aufgenommen.

Diese Vorgeschichte ermöglichte die Geschehnisse des Jahres 2004. Der Besuch vom 3. bis 10. November hatte wieder ein volles Programm mit vielen Einladungen, einem Gespräch mit den Schülerinnen und Schülern des 10. Jahrgangs der Geschwister-Prenski-Schule und der Teilnahme als Zeitzeuge an der Feierstunde zum 9. November in der Lübecker Synagoge.

Doch Bad Schwartau stand im Mittelpunkt. Mit dem Kleinbus der Stadt holten Pastorin Anne Rahe und Pastor Karsten Baden-Rühlmann (Arbeitskreis 27. Januar) das Ehepaar Yashek aus Berlin ab. Alle Organisatoren und Organisatorinnen trafen auf einer Willkommensparty mit den Gästen und den „Kindern der Auguststraße“ zusammen. Seit 1997 sind mehrere von ihnen verstorben, auch Werner König. Eine Memory Tour durch Bad Schwartau bot Gelegenheit, über die vielen Erinnerungen zu sprechen. Richard J. Yaskek seinerseits lud alle zu einem festlichen Mittag­essen ein, bei dem wiederum Zeit für Gespräche zwischen den zahlreichen Beteiligten war.

Am 9. November fand dann die Feierstunde zu Ehren der Familie Jaschek statt, zunächst im Rathaus, dann an den Stolpersteinen vor der Auguststraße 22. Für Bürgermeister Gerd Schuberth dokumentieren die Stolpersteine als feste Materie, „was auch in unserer kleinen Stadt für Unrecht vor nunmehr 63 Jahren durch die Deportation Ihrer Familie begangen wurde, unter Beteiligung oder zumindest unter Stillschweigen der Bad Schwartauer Bevölkerung, bei der damals das Unrechtsbewusstsein durch Demagogie und Verblendung bei vielen nahezu ausgeschaltet war“.[3] Hans Nolte sprach von seinen persönlichen Erinnerungen: „Auch du, lieber Jürgen, gehörtest zu dieser spielenden Kinderschar. Doch eines Tages sah ich an deiner Jacke einen gelben Stern. Abends habe ich mit meinem Vater darüber ge­sprochen. Nachdem sein Wutausbruch gegen die Nazis verebbt war, hat er mir den menschenverachtenden Sinn zu erklären versucht. Verstanden habe ich das sicher nicht. Ebenfalls unverständlich war es mir damals – und ist es mir bis heute ge­blieben –, warum ich damals eines Tages in das Lehrerzimmer gerufen wurde. Der Rektor hielt mir eine Standpauke, die in der Aussage gip-


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felte: ,Ein anständiger deutscher Junge spielt nicht mit Juden.‘ Diese Aussage unterstrich der Rektor noch, indem er mich seinen Rohrstock fühlen ließ. Damals bekam auch meine Welt einen Riss.

Eines Tages war Jürgen Jaschek nicht mehr unter den spielenden Kindern. Er blieb einfach weg! Er war einfach nicht mehr da – und keiner fragte danach. Hatte das allgemeine Schweigen damals schon uns Kinder erreicht?“

Das gemeinsame Gedenken an die ermordeten Familienmitglieder bei den Stolpersteinen schloss die Feierstunde ab.

 

Heidemarie Kugler-Weiemann

 

Anmerkungen

[1] Die erste Lübecker Gesamtschule wurde 1994 nach Margot, Martin und Max Prenski „Geschwister-Prenski-Schule“ genannt. Jürgen Jaschek besuchte mit diesen Kindern zu­sammen die jüdische Religionsschule und die jüdische Gemeindeschule in Lübeck.

[2] Richard J. Yashek / Jürgen Jaschek, Die Geschichte meines Lebens. Wie ein zwölfjähriger jüdischer Junge aus Lübeck und Bad Schwartau die Konzentrationslager überlebte. Hg. vom Schulverein der Geschwister-Prenski-Schule. Lübeck 1998 (noch erhältlich).

[3] Zitiert nach dem Zeitungsartikel von Lothar Braun in den Lübecker Nachrichten, Bad Schwartau, 10.11.2004.

 

Der Bericht enthält im Original zwei Fotos.

 

Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte 44 (Kiel 2004) S. 132-138.


Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte Heft 44

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