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Claus Olsen

"Sonderbehandlung" auf dem Dorfe

Hinrichtungen polnischer Kriegsgefangener im Raum Flensburg

Unbequeme Vergangenheit

"Im Zweiten Weltkrieg hat es eine Hinrichtung eines polnischen Kriegsgefangenen in der näheren Umgebung gegeben. Wissen Sie davon?" Das Gespräch wird plötzlich einsilbig und stockt: "Ja – aber ich werde Ihnen nichts sagen", meint der Pastor eines Dorfes im Landkreis Flensburg. "Können Sie die Vergangenheit nicht einfach ruhen lassen, nach so vielen Jahren?" Auch manche Zeitzeugen erinnern sich nicht gern: "Ach, das wird immer hochgespielt! Die Polen wußten, was sie durften und was nicht. Wer sich daran hielt, dem ist nichts passiert. Über die Sache weiß ich nichts, ich war zu der Zeit Soldat und gar nicht zu Hause. Ich kenne auch niemanden, der etwas sagen kann!" Ein anderer gibt Hilfestellung: "Wenden Sie sich an Herrn W. Der hat sich vor einigen Jahren für die Sache interessiert. Aber der hat auch kein Licht in die Sache bringen können."

Herr W. möchte gerne weiterhelfen, doch er hat kaum etwas in Erfahrung bringen können. Allerdings kennt er Zeitzeugen, die vielleicht etwas sagen wollen. Hinter vorgehaltener Hand hat man ihm zu verstehen geben, daß die fraglichen Akten im Gemeindearchiv in den Siebzigern vernichtet wurden, als die Ämter zusammengefaßt wurden. Doch die entscheidenden Schriftstücke sind schon viel früher von denen beseitigt worden, die die Gerichtsbarkeit der britischen Besatzungsmacht fürchten mußten. Tagelang brannten im Mai 1945 auf dem Hof des Polizeipräsidiums die Akten der Gestapo-Stelle Flensburg. Nichts blieb, als die Engländer endlich auch in Flensburg einrückten – außer Asche.

Fast sechzig Jahre nach den Ereignissen ist die geschichtliche Aufarbeitung nur bruchstückhaft. Viele Zeitzeugen sind verstorben; Akten wurden geschreddert, und viele, die reden könnten, schweigen lieber. Nur die damaligen Jugendlichen erinnern sich, und in den Archiven finden sich bruchstückhaft Akten der Gerichtsverhandlungen und über Spruchurteile gegen die Täter. Im Auftrag der Flensburger Staatsanwaltschaft ermittelte die Kripo lustlos. Die entscheidenden Fragen wurden nicht gestellt, denn in den Vernehmungen herrschte eine Kumpanei des Verdrängens. Die Rolle der Gestapo-Dienststelle und der örtlichen NSDAP-Parteistellen wurden nicht untersucht. Niemand wurde je zur Rechenschaft gezogen.


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Sieverstedt

Die Höfe des Dorfes Sieverstedt liegen an einer langen Straße. Am einen Ende des Dorfes befindet sich die Volksschule Sieverstedt, die heute als Grundschule genutzt wird. Ganz am Ende der Straße nach Stenderup steht abseits die romantische Feldsteinkirche, und gegenüber liegt die alte Schule, ein Strohdachhaus von 1819. Vor dem Haus steht eine mächtige Linde, die zu Ehren des Kaisers gepflanzt worden ist. Der Schulhof ist von einem Knick umgeben. Dahinter plätschert ein kleines Bächlein. Man hat einen wunderschönen Blick über die Felder und Hügel bis nach Stenderup.

Anna J. unterrichtete dort ab 1911 eine Klasse, die zweite führte der Hauptlehrer Karl Wüstefeld. Er war Kriegsteilnehmer im Ersten Weltkrieg und wurde 1924 Küster und Lehrer in Sieverstedt. Drei Jahre später übertrug ihm der Provinzialverband die Fürsorge für Zöglinge, die im Schulbezirk in der Ausbildung waren. 1937 wurde er Mitglied der NSDAP und betätigte sich als Schulungsleiter der Partei im Kreisgebiet. Er machte alles mit und war einer der großen Parteigänger im Dorf, der oft mit dem Ortsgruppenleiter Kruse zusammentraf. In der Schule achtete er darauf, daß die Heranwachsenden zur Jugendweihe gingen. Wer noch zusätzlich konfirmiert wurde, hatte manchmal einen schweren Stand. Insgesamt blieb Wüstefeld allerdings menschlich. [1]

Viele Klassenfotos sind erhalten geblieben. Die Kinder standen mit ihrem Lehrer auf der Straße vor der Schule am Steinwall zum Friedhof. Wenn die hohen Bäume an den Gräbern ihr Laub verloren hatten, kam die kleine Sieverstedter Kirche mit ins Bild oder das Pastorat. Als 1939 die neue Schule am anderen Ende des Dorfes fertiggestellt worden war, zog Wüstefeld in die dortige neu gebaute Lehrerwohnung.

Die Familie H. kaufte das freundliche Anwesen am Friedhof und bewohnte zunächst die Lehrerwohnung, nicht jedoch die beiden alten Klassenzimmer. Schon bald nach Kriegsbeginn interessierte sich die Wehrmacht für die Schulräume. Sie suchte Unterbringungsmöglichkeiten für Kriegsgefangene des "Polenfeldzugs", beschlagnahmte kurzerhand die beiden Räumlichkeiten und zahlte eine bescheidene Miete. Die Armee umzäunte das Gelände mit einem hohen Stacheldrahtzaun und stattete einen der beiden kargen Schulräume mit zusammengezimmerten Holzpritschen aus, auf denen einfache Strohsäcke lagen. Im anderen Klassenzimmer wurden zwei Wachleute untergebracht.

Nach und nach überstellte man polnische Kriegsgefangene. Sie kamen unter Bewachung von Wehrmachtsangehörigen und wurden den Bauern in der Umgebung als billige Arbeitskräfte zugeteilt. Im Schulzimmer kam keine Gemütlichkeit auf. Dreißig Männer mußten sich die doppelstöckigen Verschläge teilen. Sie wurden streng vom Unteroffizier D. bewacht, der vom Gefreiten Hans R. unterstützt wurde. Beide waren über 40 Jahre alt und somit nicht mehr kriegsdiensttauglich. Als Reservisten gehörten sie zur Landwehr und unterstanden dem Kriegsgefangenenstammlager Stalag XA 10 in Schleswig, das in der dortigen Landwirtschaftsschule eingerichtet worden war. Für die Bewacher war der Tag


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[Abb. 1: Die Kriegsgefangenen des Lagers Frörup, 2. Oktober 1940. Das Nebengebäude der örtlichen Gastwirtschaft war im selben Jahr zum Lager umgebaut worden. Stephan Kutowski (3.v.r stehend?) wurde 1942/43 in der Braderuper Feldmark von der Gestapo erdrosselt, weil er sich mit der Melkerin seines Arbeitgebers gestritten und diese angeblich bedroht hatte]

eintönig, der Gefreite R. bekam manchmal Besuch von seiner Frau aus Hamburg, einer Italienerin, die 15 Jahre älter war als er. Sie übernachtete dann beim Bauern B. Der Unteroffizier D. blieb meist allein. [2]

Die Kriegsgefangen trugen ihre braune Uniform und durften die Unterkunft ohne Befehl nicht verlassen. Streng verboten war es ihnen, am sonntäglichen Gottesdienst teilzunehmen oder gar ins Kino oder in das Theater in Flensburg zu gehen. Auch der Besuch eines Konzerts oder eines Restaurants waren untersagt. Die "Polen", wie man sie geringschätzig nannte, konnten ohnehin nicht weg, denn sie durften nicht mit dem Bus oder der Bahn fahren. Sogar die Benutzung eines Fahrrads war ihnen nicht gestattet.

Wer in der Arbeit nachlässig wurde oder mangelnden Arbeitswillen zeigte, "freches Benehmen" an den Tag legte oder gar den Umgang mit deutschen Frauen und Mädchen suchte, riskierte sein Leben, denn das galt als Verbrechen. Jedem "Fremdvölkischen" wurde ein Merkblatt auf polnisch und deutsch gegeben, das in der Sprache genauso brutal wie unzweideutig war: "Wer lässig arbeitet, die Arbeit niederlegt, andere Arbeiter aufhetzt, die Arbeitsstätte eigenmächtig verläßt usw., erhält Zwangsarbeit im Konzentrationslager... Wer mit einer deutschen Frau oder einem deutschen Mann verkehrt, oder sich ihnen sonst unsittlich nähert, wird mit dem Tode bestraft." [3] Jedes von einem polnischen Kriegsgefangenen begangene "Verbrechen" mußte vom Ar-


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beitgeber sofort gemeldet werden, andernfalls hatte er harte Maßnahmen gegen sich selbst zu gewärtigen. [4]

Vor dem Krieg hatte es einen erheblichen Arbeitskräftemangel in der Landwirtschaft gegeben, denn junge Männer und Frauen gingen lieber in die Industrie, wo sie leichtere Arbeitsbedingungen und eine bessere Bezahlung erwartete. Mit dem Überfall auf Polen wurden viele Bauern und Knechte eingezogen. Ihre Arbeitskraft fehlte auf den Höfen. Erst mit den Kriegsgefangenen standen der Landwirtschaft genügend männliche Arbeitskräfte zur Verfügung, die sie dringend brauchte. Sie ersetzten die vielen Eingezogenen.

Ab 1937 war der Bauer Johannes B. Ortsbauernführer in Sieverstedt. Das Amt fiel ihm wie von selbst zu, denn er hatte eine der größeren Hofstellen im Dorf. Als großer Parteigenosse war er vorher und auch später nie in Erscheinung getreten. Zu seinen Aufgaben als Ortsbauernführer zählte nach Kriegsbeginn die Einteilung von Kriegsgefangenen in Sieverstedt.

Auch er selbst hatte nun einen Erntehelfer auf seinem über 40 Hektar großen Hof. Der polnische Kriegsgefangene Hans L. ging ihm seit dem Frühjahr 1940 zur Hand, nachdem er im Herbst zuvor der Wehrmacht in die Hände gefallen war. Sein Arbeitseinsatz erfolgte keinesfalls freiwillig. Jeden Tag mußte Hans L. früh morgens bei B. antreten und abends bei Sonnenuntergang in das nahe gelegene Kriegsgefangenenlager im Gebäude der alten Schule zurückkehren. Hans L. stammte aus einem Ort im Kreis Stolin und besaß eine gute Bildung; möglicherweise war er vor dem Krieg Student gewesen. Auf jeden Fall war er ein gläubiger Katholik. Oft ging er in die Sieverstedter Kirche, um dort zu beten. [5]

Frau B. wurde in ihrem großen Haushalt von Luise B. unterstützt, die dort seit dem 1. Mai 1939 als Hausmädchen arbeitete. Luise B. hatte eine schwierige Kindheit hinter sich. Sie entstammte dem Kieler Arbeitervorort Friedrichsort. Mit 14 Jahren wurde sie als Fürsorgezögling in einem Heim untergebracht, weil sie, wie es damals hieß, "sittlich zu verwahrlosen drohte." Nach dem Besuch der Heimschule kam sie "in Stellung" nach Bollingstedt. Für Kost, Logis und ein geringes Taschengeld wurde sie in der Landwirtschaft eingesetzt. Das war damals üblich. Fürsorgezöglinge waren gern gesehene Arbeitskräfte in der Landwirtschaft. Mit 17 Jahren kam Luise B. zur Familie B. Da sie noch nicht volljährig war, wurde der Lehrer W. ihr Betreuer.

Schon den ganzen Sommer über wurde im Dorf getratscht. Einige wollten sie öfters in Begleitung des Lagerkommandanten D. gesehen haben, der ihre Nähe suchte. Doch sie hatte sich in Hans L. verliebt, den Kriegsgefangenen, der mit ihr auf dem Hof arbeitete. Im Sommer hatte Hans ihr ein Schifferklavier geschenkt und liebevoll kleine Geschenke mitgebracht. Während der Arbeit turtelten sie herum und küßten sich heimlich. Hans zeigte ihr Bilder von sich, gab ihr sogar ein Fotoalbum und schrieb ihr Liebesbriefe. Im August waren sie heimlich ein Paar. [6]

Am 5. September 1940 platzte dem Bauern B. der Kragen. Es war gegen Abend, aber noch hell, als er beobachtete, wie Luise B. mit dem Kriegsgefangenen auf der Toilette verschwand. Nach einigen Minuten rüttelte er an der Tür. Als geöffnet wurde, schrie er Luise


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B. an. Nun war er nicht mehr bereit, den Kriegsgefangenen weiter bei sich auf dem Hof zu beschäftigen, und rief den Lehrer W. an, um ihm von dem Vorfall zu berichten. Außerdem bemühte er sich um einen anderen Gefangenen als Helfer.

Eine verhängnisvolle Spirale kam in Gang, denn der Lagerkommandant D. hatte den Befehl, alle derartigen Vorfälle dem Stalag in Schleswig melden zu müssen, während sich der Ortsbauernführer B. daran erinnerte, daß es strafbar war, derartige Beobachtungen nicht zu melden.

Der Lagerkommandant sperrte Hans L. vermutlich im Pastorat in eine Kammer, ließ ihn bewachen und durchsuchte seine Sachen. Derweil beriet der Bauer mit seiner Frau in der großen Küche seines Bauernhauses, was zu tun sei. Er bat den Vormund, Karl Wüstefeld, sofort zu kommen. Der Dorfschullehrer schwang sich aufs Fahrrad und radelte die Dorfstraße hinunter zu B. In der Küche der Familie traf er auf den Lagerkommandanten. Dieser berichtete, daß er den Vorgang an die vorgesetzte Dienststelle gemeldet habe und L. am nächsten Tag dem Stalag in Schleswig überstellt werden müsse. Damit war klar, daß der Vorfall nicht mehr zu vertuschen war. [7]

Luise B. war derweil in ihrem Zimmer verschwunden. Kurz vor Mitternacht bog ein Auto auf den Hof. Die Herren von der Flensburger Gestapo waren da. Sie drangen in Luise B.s Kammer ein und durchwühlten ihre Sachen. Einige "Beweismittel" nahmen sie an sich. Das kleine Paket war wohl auch dabei, das Hans L. ihr an diesem Tag geschenkt hatte und das sie in der Aufregung ganz zu öffnen vergessen hatte. Luise wurde verhaftet und ins Flensburger Gefängnis gebracht.

Die Gestapo konnte die Ermittlungen in dem Fall schnell abschließen und die Akten an die Staatsanwaltschaft abgeben, weil Luise B. bei den Verhören im Flensburger Polizeipräsidium "geständig" war. Am 24. Oktober 1940 verhandelte die II. Strafkammer des Landgerichts in Flensburg über die Strafsache wegen verbotenem Umgang mit einem Kriegsgefangenen. Einen Verteidiger hatte Luise nicht. Sie wurde aus der Haft vorgeführt und sah sich fünf Männern gegenüber, die sie befragten: Dem Landgerichtsrat Celler als Vorsitzendem, den Richtern Dr. Paarmann und Bock, dem Rechtsanwalt Schmaljohann als Beamtem der Staatsanwaltschaft und dem Justizassessor Gertsen als Urkundsbeamtem.

Sie gab sofort zu, was der Staatsanwalt ihr vorwarf. Ja, sie habe sich von Hans L. umarmen und küssen lassen und mit ihm Liebesbriefe gewechselt. Schon kurz vor zehn Uhr fiel das Urteil: "Da nun die Angeklagte z. Zt. der Tat gerade erst ihr 18. Lebensjahr vollendet hatte und den Einflüsterungen eines ihr an Geisteskräften weit überlegenen Mannes erlegen ist, erschien eine Zuchthausstrafe von 8 Monaten ausreichend. Diese Strafe war [...] in eine Gefängnisstrafe von einem Jahr umzuwandeln." [8] Diese Haftstrafe hat Luise B. im Flensburger Gefängnis verbüßt. Sie kam erst Anfang September 1941 wieder auf freien Fuß.


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Die "Sonderbehandlung"

Im September 1939 fragte der Reichsführer-SS und Chef der deutschen Polizei, Heinrich Himmler, den "Führer", wie man Kontakte zwischen polnischen Kriegsgefangenen und deutschen Frauen verhindern könne. Adolf Hitler ordnete an, daß in jedem Fall ein Kriegsgefangener, der sich mit einer deutschen Frau "eingelassen" habe, getötet werden sollte. Die Frau sollte man öffentlich an den Pranger stellen, indem man ihr die Haare abschneiden und sie möglichst in ein KZ bringen sollte. Himmler seinerseits befahl: "Wenn ein Pole mit einer Deutschen verkehrt, ich meine jetzt also, sich geschlechtlich abgibt, dann wird der Mann gehängt, und zwar vor seinem Lager. Dann tun's nämlich die anderen nicht." [9]

Im März 1940 wurden diese Befehle in Anordnungen umgesetzt. In den sogenannten "Polenerlassen" galt der sexuelle Kontakt zwischen deutschen Frauen und polnischen Männern nun als Kapitalverbrechen, das mit Todesstrafe für die beteiligten Polen geahndet wurde. Die Geheime Staatspolizei bekam alle Hände voll zu tun. Wegen "verbotenen Umgangs mit Kriegsgefangenen" wurden allein zwischen Mai und August 1940 400 Personen verhaftet, während wegen kommunistischer oder sozialdemokratischer Betätigung 533 Menschen festgenommen wurden. [10]

Die meisten der Festnahmen erfolgten, weil sich Teile der Bevölkerung zu freundlich gegenüber den Kriegsgefangenen gezeigt hatten. Der Terror gegen die "Fremdvölkischen" verschärfte sich mit dem Kriegsverlauf. Der Reichsjustizminister und der Reichsführer-SS vereinbarten 1942, daß "Juden, Polen, Zigeuner, Russen und Ukrainer nicht mehr von den ordentlichen Gerichten [...] abgeurteilt werden sollen, sondern durch den Reichsführer-SS erledigt werden." [11]

Für die Durchsetzung der Erlasse war das Reichssicherheitshauptamt (RSHA) in Berlin zuständig, das in der Prinz-Albrecht-Straße in Berlin residierte. Diese Schreckensbehörde beherbergte die Zentrale der Ordnungspolizei, der Gendarmerie (Orpo) und die Zentrale der Sicherheitspolizei (Sipo), bestehend aus der Kriminalpolizei (Kripo) und der politischer Polizei (Gestapo) als staatliche Behörden neben dem Sicherheitsdienst (SD) als Spitzeldienst der NSDAP. Allerdings war das Amt nicht ein einheitlicher Block. Die Orpo und Kripo agierten manchmal neben der Gestapo als Hilfsorgane der örtlichen Staatsanwaltschaften, manchmal wurden die Gerichte über die Staatsanwaltschaften tätig, oft arbeitete die örtliche Gestapo jedoch völlig autonom und nur den Weisungen aus Berlin unterworfen und legte ihre Untersuchungsergebnisse der Staatsanwaltschaft oder den Anklägern der Sondergerichte vor. Bei Verfahren gegen die politische Opposition, bei der Verfolgung der Juden und bei Aktionen gegen Kriegsgefangene war die Gestapo Herrin des Verfahrens, während andere staatliche Stellen ihr im Wege der Amtshilfe zuarbeiteten.

Einige Besonderheiten des Führerstaates lassen sich am Beispiel der Gestapo zeigen. Einerseits diente die Gestapo als Behörde neben den regulären Polizeistellen als Instrument des Maßnahmestaates, der ohne Rücksicht auf legales staatliches Handeln die Füh-


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rerbefehle umsetzte, andererseits blieb das Handeln des Gestapoamtes bürokratisches Verwaltungshandeln. Hier wurde mit deutscher Gründlichkeit gearbeitet, denn die Mitarbeiter der Gestapo verstanden sich als Polizeibeamte, während der SD als Nachrichtendienst der Partei galt.

Doch beides war nur Kehrseiten derselben Medaille: Die Beamten der Gestapo waren zugleich zwangsweise Mitglieder der SS und traten in SD-Uniform auf. Die Maßnahmen der Gestapo und Aktionen der Partei ergänzten sich oft, manchmal standen sie jedoch in Konkurrenz zueinander. Die Drohung des Terrorapparates "Die Gestapo sieht und hört alles" war in der Realität nicht durchführbar. In Schleswig-Holstein gab es zum Beispiel 1937 nur 177 Gestapo-Beamte. Die örtliche Gestapo war mit den aus Berlin zugewiesenen Aufgaben, der Verfolgung von Gegnern der NS-Herrschaft, der Grenzüberwachung, der Deportation der Juden und der Kontrolle der "fremdvölkischen" Bevölkerung überfordert. Die flächendeckende Kontrolle der Bevölkerung kam nicht zustande. Als Terrorinstrument arbeitete sie effizient, weil die Gendarmerie-Einzelposten auf den Dörfern, die Bürgermeister und Landratsämter und die NSDAP-Ortsgruppen der Gestapo zuarbeiteten.

Insbesondere auf den Dörfern konnte niemand sicher sein, nicht entdeckt zu werden. Fast alle Anzeigen wegen verbotenen Umgangs mit Kriegsgefangenen kamen aus der Nachbarschaft und wurden den Dorfpolizisten gemeldet. Manchmal leiteten Bürgermeister oder der Landrat Eingaben und Beschwerden an die Gestapo weiter. [12] Die Landräte kümmerten sich sogar um Einzelfälle und gaben Empfehlungen, wie mißliebige Kriegsgefangene zu bestrafen seien.

Organisator und Chef des RSHA war der gewissenlose und gefürchtete SS-Obergruppenführer und Chef der Sicherheitspolizei und des SD, Reinhard Heydrich (1904-1942). Er unterstand Heinrich Himmler (1900-1945), der wiederum direkten Zugang zu Hitler hatte. Das Geheime Staatspolizeiamt (Gestapa) bildetete die Abteilung IV des RSHA. Dort war Heinrich Müller Amtschef, den alle nur "Gestapo-Müller" nannten. Der bürokratische, rücksichtslose und kalte Schreibtischtäter war nicht nur mit der Organisation des Holocaust an den europäischen Juden und dem Völkermord in ganz Europa befaßt, sondern auch für "Ostarbeiter" und Kriegsgefangene im Reich zuständig. [13]

Im RSHA liefen alle Fäden zusammen, und von hier wurden auch Maßnahmen gegen polnische Kriegsgefangene und Zivilarbeiter gesteuert. Das RSHA wies in einer Reihe von behördlichen Erlassen die einzelnen regionalen Gestapo-Stellen an, unbarmherzig und schnell zu handeln. Hierbei sei besonders zu berücksichtigen, daß "Polen und Angehörige der Ostvölker" als "fremdvölkische und rassisch minderwertige Menschen [...] aus staatspolizeilichen Erwägungen völlig anders als deutsche Menschen zu behandeln" seien. [14]

Ein besonderes Problem bereitete dem RSHA in den Jahren 1939 und 1940 noch der Status der meisten Polen als Kriegsgefangene nach dem Genfer Abkommen von 1929, das derartige Verbrechen an Kriegsgefangenen nicht erlaubte. Zudem war die Wehrmacht für die Kriegsgefangenen zuständig. Im


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Auftrag Himmlers verhandelte deshalb der RSHA-Chef Reinhard Heydrich mit der Wehrmacht und erreichte im Januar 1940, daß Kriegsgefangene, die den Kontakt zur weiblichen Bevölkerung gesucht hatten, pro forma aus der Obhut der Wehrmacht entlassen wurden und den Status des Zivilarbeiters erhielten. Die Wehrmacht übergab sie dann der Gestapo.

Alle polnischen Kriegsgefangenen wurden dann formell ab November 1941 aus der Kriegsgefangenschaft entlassen. Sie erhielten den Status von Zivilarbeitern und mußten fortan ein gelbes "P" auf schwarzem Grund sichtbar an der Kleidung tragen, so wie sich Angehörige der verfolgten jüdischen Minderheit den Stern annähen mußten.

In den Erlassen des RSHA vom 3. September 1940 waren die Bestimmungen, wonach polnische Arbeiter im Falle von Geschlechtsverkehr mit Deutschen zu hängen waren, spezifiziert worden. Bei "Sonderbehandlung" war jetzt folgendermaßen vorzugehen: Ein eingehender Bericht war sofort an das RSHA zu schicken, der mit Vernehmungsdurchschriften, amtsärztlichem "rassischem Gutachten" sowie "die Rassenmerkmale deutlich kennzeichnenden Lichtbildern" eingereicht werden mußte. Die zuständigen Referate im RSHA prüften dann den Fall. [15] Der Sachbearbeiter des Ausländerreferats schlug aufgrund der Aktenlage die Hinrichtung vor. Der örtliche Gestapo-Leiter beantragte dann beim Leiter der Abteilung IV des Reichssicherheitshauptamtes in Berlin, Heinrich Müller, die Ermordung. Der stimmte zu und ordnete die Vollstreckung an.

Nachdem der Antrag von Berlin aus genehmigt worden war, hatten Beamte der zuständigen Referate, der Außendienststellen oder der lokalen Polizeibehörde den Exekutionsort auszuwählen, der aus Gründen der Abschreckung in der Nähe des "Tatortes", des Wohnortes oder des Gefangenenlagers liegen sollte. Die Kreisverwaltung wurde dann als oberste Dienststelle der örtlichen Gendarmerie beauftragt, genügend Polizeibeamte für die Hinrichtung abzustellen, die in der Umgegend lebenden Landsleute des Todeskandidaten am Tage der Exekution am Hinrichtungsort zu versammeln und die nötigen Absperrmaßnahmen vorzunehmen. [16]

Alle Verantwortlichen kannten die unmenschlichen Verfügungen aus Berlin: die Beamten der örtlichen Flensburger Gestapo, die Gendarmeriewachtmeister, die NSDAP-Ortsgruppenleiter und Amtsvorsteher, der Ortsbauernführer und die Lagerwache. Sie wußten oder mußten gehört haben, was dem polnischen Kriegsgefangenen drohte, der mit einer Deutschen erwischt wurde. Auch Hans L. in Sieverstedt war klar, was ihm bevorstand, als er von dem Gefreiten R. abgeführt und eingeschlossen wurde. Er schrieb seinen Abschiedsbrief. Derweil verfertigte der Lagerkommandant den Bericht. Am nächsten Morgen wurde Hans L. an das Stammlager nach Schleswig überstellt. Dort verhörte man ihn, und seine Aussagen wurden protokolliert. Dann verlor er gegen jede völkerrechtliche Bestimmung seinen Status als Kriegsgefangener und wurde an die Gestapo übergeben, die ihn nach Kiel ins Polizeigefängnis brachte. Im März 1941 sollte er hingerichtet werden.

Die Gestapo in Kiel und Flensburg terminierte die Hinrichtung für den 12. März 1941. Ein Gestapo-Beamter der


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Dienststelle Flensburg kam am Vormittag des 11. März 1941 in die Sieverstedter Schule und sprach mit dem Hauptlehrer Wüstefeld in dessen Wohnung. Der Beamte wies ihn an, daß an diesem und am folgenden Tag kein Kind den Weg an der alten Schule benutzen dürfe. Frau S. erinnert sich, daß sie an diesem Tag Geburtstag hatte. Auf ihrer Feier wußten bereits alle Kinder, daß Hans L. gehängt werden sollte, und am anderen Morgen konnten sie beobachten, daß viele LKW und Autos in Sieverstedt unterwegs waren. Mehr als 100 polnische Kriegsgefangene aus der gesamten Umgegend wurden zur Hinrichtungsstätte transportiert. [17]

Von den Vorbereitungen dazu sind nur einige Notizen der Kreisverwaltung Schleswig-Land erhalten geblieben. Der damalige Landrat Kolbe war über alles informiert und gab dem Bezirksleutnant der Gendarmerie, Pries, Anweisungen. Dieser orderte beim Seefliegerkorps unter Major Marquardt zwei Lastkraftwagen und sorgte dafür, daß polnische Kriegsgefangene aus Moldenit, Füsing, Brodersby, Bollingstedt, Gammellund, Brekling, Berend, Schuby, Lürschau und Arenholz zur Hinrichtungsstätte transportiert wurden. Zu ihrer Bewachung fuhren auf jedem Lastwagen zwei Gendarmen mit. Es waren die Gendarmerie-Meister Göttsch, Eulig, Jungjohann und Krause. [18]

Die 40 Kriegsgefangenen aus Havetoftloit, Dammholm und Torsballig mußten zu Fuß marschieren. Bewacht wurden sie von den Gendarmen Püstow und Wegener.

Der Amtsvorsteher und Ortsgruppenleiter Kruse, der stellvertretende Landrat Klaus und drei weitere NSDAP-Leiter trafen ebenfalls dort ein. Dazu kamen eine Reihe von Kieler Gestapo-Leuten und die vollzählige Mannschaft der Gestapo aus Flensburg. Die Gendarmerie sperrte den Weg ab. Die eigentliche Hinrichtung wurde vor 10 Uhr vollzogen. Alle Kriegsgefangenen mußten am Erhängten vorbeimarschieren. Der hinzugezogene Amtsarzt stellte um 10.06 Uhr den Tod fest. Die Abteilung II B.3 der Gestapostelle in Kiel meldete noch am 12. März 1941 dem Standesbeamten Riesbye in Sieverstedt, daß Jan L. verstorben war. Der Standesbeamte bemühte sich um die Ermittlung der Eltern des Getöteten, konnte jedoch nichts in Erfahrung bringen, und trug unter der Nummer 2 / 41 des Beerdigungsregisters ein: "Die Todesursache ist nicht bekannt." Beigesetzt wurde der Gehängte jedoch nicht auf dem Dorffriedhof in Sieverstedt. Die Gestapo ließ die Leiche abtransportieren. Am Abend veranstalteten die Gestapo-Leute ein Saufgelage. Sie ertränkten ihren Schrecken im Alkohol und waren am nächsten Tag dienstunfähig. [19]

In Sieverstedt war die Hinrichtung Tagesgespräch. Die meisten Dorfbewohner waren entsetzt, und viele Mythen entstanden. Viele mieden noch lange die Hinrichtungsstelle und gingen lieber den Umweg über den Friedhof, wenn sie nach Stenderup wollten. Als viele Jahrzehnte später der Baum am Rand des alten Schulhofs abstarb, erzählte man sich, auch er habe eine Seele, oder vielleicht, so meinten andere, hätte jemand heimlich Nägel in den Baumstamm geschlagen. Das hätte der Baum nicht verkraftet. [20]

Wie die Hinrichtung in Sieverstedt genau ablief, ist nicht überliefert. Die Zeugen des Vorfalls, die vielleicht noch


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[Abb. 2: Sterbebucheintrag vom Standesamt Sieverstedt zum Tod von Jan L., 12. März 1941. Spätere Hinrichtungen wurden nicht mehr amtlich verzeichnet, so daß die Namen und Schicksale vieler Opfer nicht mehr rekonstruiert werden können]


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Verhör des Kieler Gestapo-Beamten Ahrweiler am 21. Oktober 1947:
"Frage: An Polen haben Sie sich nie tätlich vergriffen?
Antwort: Nur, wenn einer renitent wurde, sonst nicht.
Frage: An der Hinrichtung eines Polen haben Sie sich auch nie beteiligt?
Antwort: Mit Hinrichtungen habe ich nichts zu tun gehabt, ich war auch kein Sachbearbeiter von Hinrichtungen.
Auf Vorhalt: Ich habe nie einer Hinrichtung in einem Lager beigewohnt. Nein, ich habe keiner Hinrichtung bei Schleswig beigewohnt.
Frage: Denken Sie an den Sommer 1941, Hinrichtung eines Polen, der mit einer Geisteskranken der Heilanstalt Kropp geschlechtlich verkehrt hat. Können Sie sich dieses Vorfalles nicht entsinnen, wenn er sich ereignet hat, müßte er doch unauslöschlich in Ihrer Erinnerung sein. Ich lasse Ihnen 5 Min. Zeit, sich den Vorfall zu überlegen.
Antwort: Ich möchte heute hierzu noch keine abschließende Erklärung geben.
[Am nächsten Tag]
Frage: Können Sie sich nun des Vorfalls aus dem Sommer 1941 entsinnen?
Antwort: Jawohl. – Soweit es in meiner Erinnerung ist, wurde vom Reichssicherheitshauptamt die Sonderbehandlung eines Polen befohlen. Ich war kein Sachbearbeiter, sondern wurde nur mit mehreren Beamten für den Tag abgestellt. Der die Leitung der Exekution, bzw. den Befehl gegeben hat, war der Leiter der Stapostelle Kiel, Oberregierungsrat Hentschke [sic]...
Frage: Warum fuhren Sie denn zu der Exekution mit heraus? Was war ihre Aufgabe?
Antwort: Wir sollten den engeren Kreis absperren. Das andere wurde von der Gendarmerie abgesperrt.
Frage: Haben Sie persönlich den Polen an jenem Tage niemals angefaßt?
Antwort: Ich gebe zu, daß ich zwar die Fessel aufgeschlossen habe, als er schon tot war. Der Kraftfahrer Mohr hatte den Polen gefahren, ich nehme stark an, daß es Mohr gewesen sein muß, der den Polen an den Fichtenstamm herangebracht hat...

Ich hatte keine Exkursion mehr mitgemacht, ich habe wochenlang davon geträumt, dauernd kam mir der Kerl vor Augen." [22]

etwas berichten können, wohnen heute in Polen. Die Täter sind alle verstorben. Allerdings wird sie ähnlich durchgeführt worden sein wie die Exekution eines Kriegsgefangenen bei Kropp im Sommer 1941, der von einem Anwohner der Kropper Anstalten bei der Polizei denunziert worden war, weil er sich angebgeblich mit einer Bewohnerin des Heims eingelassen hätte.

Der Kieler Gestapo-Mitarbeiter Paul Mohr gab nach dem Krieg bei seiner Vernehmung eine eindringliche Schilderung der Ermordung:

"Nach einem Bericht an das RSHA verfügte dieses die 'Sonderbehandlung'. Eines Morgens fuhren wir zu diesem Zwecke in einen Wald in die Nähe von Kropp. In dem Wagen, den ich steuerte, befand sich der Dienststellenleiter Oberreg. Rat Henschke, Krim. Rat Barnekow und der Arzt, dessen Name mir


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unbekannt ist. Wir haben ihn in der Beseler Allee (in Kiel) Ecke Gerhardstrasse abgeholt. Er trug Zivil. In dem anderen Wagen, den der Kraftfahrer Jetzig lenkte, befand sich der Pole sowie die Sekretäre Ahrweiler und Orsin. Gegen 10.00 Uhr kamen wir im Walde bei Kropp an. Während ich auf der Strasse hielt, fuhr der andere Wagen etwas in den Waldweg. Nach einer halben Stunde kam einer der Sekretäre aus dem Seitenweg heraus und winkte uns. Wir fuhren darauf in den Wald. Dort war zwischen zwei Bäumen ein Fichtenstamm mit Tauen quergebunden. Daran befand sich ein Seil mit einer Schlinge. Das Seil lief oben durch eine Taille. An dem Hinrichtungsplatz liess der Chef halten. Die Insassen stiegen aus, und ich fuhr ein Stück weiter, auf eine kleine Lichtung, wo ich den Wagen wendete. Inzwischen fuhr der andere Wagen vor. Der Pole kam aus dem Wagen heraus und wurde im gleichen Augenblick auch schon hochgezogen. Er war an den Händen, nicht jedoch an den Füssen, gefesselt mit Handschellen. Die beiden Sekretäre zogen ihn hoch. Der Wagen fuhr dann weiter an mir vorbei und wendete auch. Der Pole mußte 20 Minuten hängen. Darauf liessen die beiden Sekretäre ihn wieder herunter und der Arzt stellte den Tod fest. Der Chef sowie die anderen beiden Herren stiegen bei mir in den Wagen ein. Der Chef sagte zu mir: "Mohr wir wollen langsam vorfahren." Zur gleichen Zeit kam ein Leichenwagen eines Privatunternehmers an, in dem die Leiche abtransportiert werden sollte. Wir fuhren vor und der Wagen mit den Sekretären holte uns nach einer Viertelstunde ein. Gegen Mittag waren wir wieder in Kiel." [21]

Noch bist du Kropperbusch nich vorbi

Die Gaststätte in Kropperbusch liegt auf halbem Weg zwischen Schleswig und Rendsburg mitten in einem Waldstück, das in früheren Jahrhunderten gefürchtet war. Wer auf der Landstraße mit seinem Pferdefuhrwerk unterwegs war, mußte sich in Acht nehmen, schließlich konnten bei Kropperbusch plötzlich wie aus dem Nichts Räuber auftauchen. Die glücklich erreichte Gaststätte am Waldrand war nur eine vermeintliche Sicherheit, denn die Gefahr war noch nicht vorbei; man mußte ja irgendwann weiterziehen.

Am Morgen des 19. November 1941 war der 18jährige Robert Lekker im Wald von Kropperbusch auf dem Weg zur Munitionsanstalt, der Muna. Dort sollte er Decken zählen. Im Wald traf er den Gemeindearbeiter Heinrich Kruse mit einer Säge und einem Beil. "Na, Heinrich, wat hest du denn vör?" fragte er ihn. "Robert", meinte der Arbeiter, "dat dörf ick di nich vertellen, dat is geheim!" Als Robert Lekker nicht locker ließ, meinte Heinrich Kruse schließlich: "Ick schall en Galgen buen!" Nun war die Neugierde des jungen Mannes geweckt. Er ging sofort nach Hause, aß hastig zu Mittag und ging zu der Stelle, die ihm Heinrich Kruse gezeigt hatte. Dort legte er sich abseits in einem Graben ins feuchte Gras und wartete.

Es war ein grauer Tag, der 19. November 1941 in Kropperbusch. Stundenlang standen einige Lastwagen der Wehrmacht an der Reichsstraße nach Schleswig. Auf der Ladefläche warteten


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polnische Kriegsgefangene, bewacht von Gendarmen. Langsam wurde es allen kalt an diesem ungemütlichen Tag. Schließlich näherte sich langsam eine Wagenkolonne mit fünf oder sieben Überfallwagen aus Kiel und bog direkt an der Gastwirtschaft in den Wald.

Robert Lekker erinnert sich, daß ihm immer kälter wurde. Doch weggehen konnte er auch nicht mehr, denn Gendarmen hatten sich eingefunden und bewachten den Ort. Nach endlos langer Zeit wurde er Augenzeuge eines schrecklichen Geschehens. Am Nachmittag wurden die wartenden Polen aus den Lastwagen geholt und mußten antreten, während die Gestapo mit den Verurteilten und drei Häftlingen in Sträflingskleidung aus Kiel eintraf. Der an der Gastwirtschaft postierte Gendarm dirigierte das Hinrichtungskommando an die 200 Meter hinter der Gastwirtschaft an einem Waldweg versteckte Hinrichtungsstelle. Dort hatte der Gemeindearbeiter zwischen zwei Bäumen einen Querbalken gebaut und drei Fässer darunter gestellt.

Ein Gestapo-Mitarbeiter verkündete das "Todesurteil" aus Berlin. Dann stiegen die drei Verurteilten auf die bereitgestellten Tonnen; die Häftlinge legten ihnen die Schlinge um den Hals und stießen die Behälter um. Alle Kriegsgefangenen mußten an den Erhängten vorbeigehen. Gebannt schaute Robert Lekker, der heimliche Zeuge, zu: "Manche sahen weg", erinnert er sich noch heute so, als wäre es gestern gewesen. "Aber andere, die schauten genau hin, manche drehten sich sogar noch einmal im Grauen um und blickten den Ermordeten genau ins Gesicht." [23] Als der letzte vorbeigegangen war, ließen die Häftlinge die Getöteten herab, und der Amtsarzt aus Schleswig stellte den Tod fest. Zwei Leichenwagen kamen heran, luden die Hingerichteten ein und fuhren davon.

Die Hinrichtung in Kropperbusch wurde genau nach den Richtlinien des RSHA durchgeführt. Die fernschriftliche Hinrichtungsverfügung wurde auf Deutsch verlesen, und ein Gestapo-Beamter eröffnete den Landsleuten am Richtplatz, daß auch sie mit gleichen Strafen zu rechnen hätten, wenn sie solche oder vergleichbare "Straftaten" begehen würden. Nach einer Anweisung des RSHA sollten die Exekutionen durch den Strang erfolgen und von Mithäftlingen vollstreckt werden. Diese bekamen als Henkerslohn fünf Reichsmark oder Zigaretten. [24]

Die verräterische Aktennotiz des Schleswiger Landrats vom 17. November 1941 ist in häßlichem Amtsdeutsch verfaßt, klar, eindeutig und unbarmherzig: "1.) Vermerk: Auf Anordnung des Herrn Regierungsrats Henschke von der Gestapo in Kiel erscheint der Kriminal-Obersekretär Kies und teilt mit: Am Mittwoch, dem 19. ds Mts. um 16 Uhr sollen in Kropperbusch in der Nähe der Gastwirtschaft Bandholz – etwa 200 m von dieser entfernt – in einem versteckten Waldweg 3 Polen Mussialeck, Goballa und Biotrowitsch erhängt werden, weil sie etwa im Mai ds. Jrs. mit einer Hermine H[...] aus H[...] Geschlechtsverkehr ausgeübt haben... 2) Herrn Landrat vorlegen. 3.) Durchschlag für Herrn Leutnant Pries zur sofortigen weiteren Veranlassung. 4.) Z. d. A." [25]

Alle drei waren nach übereinstimmender Aussage noch lebender Zeitzeugen freundliche, hilfsbereite Männer, die sich nichts hatten zuschulden kommen


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lassen. In H., wo die Gestapo-Wagen so langsam durchgefahren waren, arbeitete Goballa bei der Familie S., und Hermine H[...] war als Hausmädchen in der Nachbarschaft beschäftigt gewesen. [26]

Einer der drei hatte sich vertrauensvoll an den Hausarzt W. in Kropp gewandt, der ihn untersuchte und dabei eine Geschlechtskrankheit feststellte. Der Arzt meldete seine Diagnose an das Gesundheitsamt. Dort denunzierte man den Patienten. Die Gestapo nahm ihre Ermittlungen auf und holte die drei polnischen Landarbeiter und Hermine H[...] ab.

In H. hörte man nie wieder etwas von Hermine H[...]. Ihr Name taucht nur noch einmal auf: in den Sterbebüchern des Konzentrationslagers Auschwitz. Dort wurde sie als Häftling Nr. 1370/1943 am 6. Januar 1943 ermordet. [27] Wie sie dort hingekommen ist, wird sich wohl nicht mehr aufklären lassen. Vermutlich wurde sie erst ins Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück gebracht und ist von dort später nach Auschwitz deportiert worden.

Behandlung der Kriegsgefangenen

Nach dem Überfall auf Polen wurden bereits 1939 für Erntearbeiten rund 30.000 Kriegsgefangene im Reichsgebiet fast ausschließlich in der Landwirtschaft eingesetzt. Anfang Oktober 1939 waren es schon 110.000 und im Februar 1940 270.000 Kriegsgefangene. [28]

Die Gefangenen wurden zunächst in großen Durchgangslagern gesammelt und dann auf die Stammlager (Stalags) verteilt, die der Wehrmacht unterstanden. In den Dörfern wurden Tanzsäle der Gastwirtschaften oder andere geeignete Unterkünfte ausgewählt. Dann wurden dort Wachmannschaften aus älteren Soldaten gebildet. So geschah es auch in dem beliebten Tanzlokal in Husbyries. Die Polen aus dem Husbyrieser Lager, es waren ca. 100 Mann, wurden auf Höfe in Husby, Husbyholz, Hodderup, Lutzhöft und Gremmerup verteilt, wo sie die zur Wehrmacht eingezogenen Knechte ersetzten und wo sie auch verpflegt wurden.

Als Bewachung dienten fünf deutsche Soldaten unter der Führung eines Unteroffiziers. Für die Wachmannschaft wurde ein Zimmer beim Gastwirt eingerichtet. Ein Wachsoldat brachte dann jeden Morgen eine Gruppe zu einem der Dörfer, wo er die Gefangenen auf den ihnen zugeteilten Höfen ablieferte. Abends brachte er sie wieder ins Lager zurück, wo sie dann die Nacht hinter der verschlossenen Saaltür verbrachten.

Die Gastwirte erhielten für die Unterbringung pro Kriegsgefangenem im Sommer 20 Pfennig und im Winter 40 Pfennig am Tag. Vertragspartner war das Stalag X A in Schleswig. [29] Solange die Gefangenen im Lager wohnten, bekamen sie 13 Lagermark pro Monat, womit sie in einer für sie eingerichteten Marketenderei mit stark beschränktem Warenangebot einkaufen konnten. [30] Die Gastwirte durften ihnen die Waren nur im Beisein der Wachmannschaft verkaufen. Auf die ohnehin erhöhten Preise, die die Polizei festlegte, wurde zehn Prozent aufgeschlagen. Das eingenommene Lagergeld wurde am Ende eines jeden Monats an die Verwaltungsdienststelle des Stalag in Oldenburg/Holstein übersandt. Dort wurde


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[Abb. 3: Rentenversicherungskarte für den polnischen Zwangsarbeiter Julian Bartoczko. Die entrichteten Beiträge kamen den Polen nach dem Krieg nie zugute]

1/11 abgerechnet und der verbleibende Betrag in Reichsmark überwiesen. [31]

Anfangs kamen die Kriegsgefangenen überwiegend in die Landwirtschaft, doch auch den Industriebetrieben und Handwerkern wurden "Polen" zugewiesen. Der Bedarf war riesengroß, zumal ständig deutsche Knechte, Bauern und Handwerker eingezogen wurden. Nach einer kurzen Einarbeitungszeit machten die Polen nicht nur die Feld- und Viehwirtschaft oder arbeiteten als Facharbeiter oder Handwerker. Sie brachten auch das Korn zur Mühle, die Milch zur Meierei, machten die Einkäufe beim Kaufmann, Schlachter und Bäcker.

Bis Ende 1941 blieben die Polen in den Lagern und gingen zu Fuß mit ihrem Wachmann den oft langen Weg hin und zurück zur Arbeitsstätte, was zeitraubend und umständlich war. Die deutschen Behörden beschlossen deshalb Ende 1941, daß die Polen als Kriegsgefangene entlassen und als zivile Arbeiter verpflichtet werden sollten. Einige Lager wurden ab Ende 1941 ausgewählt, um dort die Statusänderung vornehmen zu können. Von den Behörden wurde zunächst für jeden Polen ein Dokument angefertigt, das diese Statusänderung bezeugte und die er mit seiner Unterschrift anerkennen sollte. In einigen Lagern wurde vom Wachpersonal Versprechungen gemacht, die sich nachher aber als falsch herausstellten. Den Kriegsgefangenen wurde in Aussicht gestellt, daß sie mehr als 60 RM im Monat bekommen sollten und daß sie als Zivilarbeiter voll anerkannt wären. [32]

Doch die Polen fühlten sich als Soldaten und wollten die Unterschrift nicht leisten, die sie zu Zwangsarbeitern de-


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[Abb. 4: Entlassungsschein aus der Kriegsgefangenschaft für den polnischen Kriegsgefangenen Kasimir A., ausgestellt vom Stalag Schleswig. Diese Maßnahme erfolgte gegen den ausdrücklichen Willen des Betroffenen unter Androhung von Gewalt. Er lebt heute im Kreis Schleswig-Flensburg]


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gradierte. Die Behördenvertreter, es waren Parteifunktionäre und Offiziere, reagierten auf ihre Weise. Sie brachten handfeste Männer mit, und wer nicht unterschreiben wollte, wurde je nach Bedarf geschlagen, verprügelt, mit den Stiefeln getreten oder mit dem Gewehrkolben geschlagen. Nur ganz wenige unterschrieben ohne Widerstand, andere nach einigen Faustschlägen, aber viele unterschrieben nicht. In Ruhnmark kam ein polnischer Kriegsgefangener zu seinem Bauern zurück und meinte: "Deutsche kein Kulturvolk!" und verrichtete fortan seine Arbeit nur noch widerwillig. Das Vorgehen der Behörden war so brutal, daß sich einige Bauern beschwerten, weil ihre Beschäftigten arbeitsunfähig geschlagen wurden. Später bekamen die Polen einfach einen Entlassungsschein, der gleichzeitig eine Dienstverpflichtung beinhaltete. [33]

Die Polen mußten sich nach der Statusänderung mit einer Arbeitskarte bei der Polizei melden. Waren sie als Kriegsgefangene mit einer aus Rock, Hose und Mütze bestehenden Uniform bekleidet gewesen, gingen sie nun in Zivil. Jeder hatte immer eine ca. 5 x 5 cm große Marke mit einem schwarzen "P" auf gelbem Grund an der linken Brustseite zu tragen. Es war eine Kennzeichnung von Menschen zu ihrer Herabwürdigung, genauso wie Juden und später russische Zwangsarbeiter ein Abzeichen tragen mußten.

An einem schönen Sonntagnachmittag im Sommer beobachtete Werner Mühlmann in Husbyholz ein Auto, das scharf abbremste: "Da damals kaum Autos fuhren, gingen wir natürlich hin, um zu sehen, was los sei. Hier machte eine Gruppe von vier Polen einen Sonntagsspaziergang. Da das Wetter gut war,

[Abb. 5: Unbekannter polnischer Zwangsarbeiter mit "P"-Raute (Flensburger Umland, um 1940)]

hatte der eine Pole seine Jacke zurückgeschlagen und ging mit den Händen in den Hosentaschen. Hierdurch war das "P" nicht mehr direkt sichtbar. Per Zufall wurde die Gruppe von einem offenen Wagen mit Parteifunktionären überholt. Der Wagen bremste abrupt, ein Parteifunktionär stieg aus, ging zum Polen mit der offenen Jacke, schimpfte über das unsichtbare "P" und versetzte dem verdutzten Polen eine Serie schallender Ohrfeigen." [34]

Nach dieser Statusänderung sollten die Arbeitgeber nicht nur für die Kost, sondern auch für die Unterkunft sorgen. In den meisten Fällen konnten die Polen direkt in die leeren Kammern der eingezogenen Deutschen einziehen. Wenn nicht, so konnte man leicht eine Behausung finden, da ja keine Qualitätsansprüche gestellt wurden. Für ihre Arbeit bekamen sie offiziell nur 36 Reichs-


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mark, womit sie frei einkaufen konnten. Manche Arbeitgeber zahlten allerdings freiwillig das Doppelte, um ihre Arbeitskräfte zu halten. Soweit die Polen bisher Uniformen vom Deutschen Reich erworben hatten, mußten sie sie bei der nächsten Polizeidienststelle abgeben und bekamen dafür zehn Reichsmark erstattet. Nun war für sie das Arbeitsamt zuständig. Auch bekamen sie eine Raucherkarte zum Einkauf von Tabakwaren, allerdings nur eine Frauen-Raucherkarte, die nur die halbe Ration der Männer enthielt.

Meistens gingen die Bauern gut mit ihren neuen Hilfskräften um. Einige wenige haben allerdings die Propaganda der Regierung genau befolgt. Beim Bauern Malte N. gab es bei schwerster körperlicher Arbeit jeden Morgen fünf Stück Brot mit Schmalz und Salz, Milch und etwas Grütze, mittags Grütze mit Milch und Kartoffeln. Nachmittags mußten die beiden polnischen Arbeiter durcharbeiten, und abends wurden Bratkartoffeln mit trockenem Brot gereicht. Der Bauer zwang seine Arbeiter, an sieben Tagen in der Woche zu arbeiten, und zeigte sie bei der Gendarmerie an, als sie eines Sonntags die Arbeit verweigerten.

Dem Landrat des Kreises Schleswig-Land, Kolbe, war die Angelegenheit so wichtig, daß er sie persönlich erledigte. Er ließ die Angezeigten wissen, daß sie "im Wiederholungsfalle mit den allerschärfsten polizeilichen Maßnahmen zu rechnen" hätten. [35] Wie diese Maßnahmen aussahen, läßt sich an einem anderen Fall zeigen: Der politische Leiter der NSDAP-Ortsgruppe Treia, Carsten Hinrichsen, schrieb am 6. April 1942 eine Beschwerde an den Bürgermeister von Treia, der sie an den Landrat in Schleswig weiterleitete:

"Der ehemalige polnische Kriegsgefangene Peter Marszuk, geb. am 11.12.1914 ist seit dem 1.11.41 als Ukrainer aus der Gefangenschaft entlassen und am 2.11.41 bei mir in Arbeit gestellt. Der Bruttolohn für diese Arbeitskraft ist vom Arbeitsamt auf 50 Rm monatlich festgesetzt. Wegen diese ihm angeblich zu wenig gezahlten Lohnes hat Marszuk mir mehrfach beschimpft. Er hat sich aber ebenfalls über andere Dorfbewohner, die sein Anliegen nicht erfüllten folgendes geäußert. Der Gastwirt Pg. Fr. Glöe, Treia mit seinem dicken Bauch, sollte zu Schmierseife gemacht werden. Über die Firma Lorenz Hansen, es ist noch lange nicht Krieg genug, dort müssen die Bomben platzen. Ich habe ihm auf die Folgen seiner Äußerungen aufmerksam gemacht und es der Polizei gemeldet. Die Polizei hat anscheinend darauf nicht reagiert. Am 2.4. ds. Mts. erklärte er mir ganz frech, er wollte wegen seines Lohnes zum Arbeitsamt fahren. In Anbetracht der dringenden Frühjahrsarbeiten habe ich ihm dieses Anfangs abgelehnt. Nach Rücksprache mit der Polizei ihm ein halben Tag frei gegeben. Nachdem er dort sein Ziel nicht erreicht hatte, wurde er am nächsten Tag wieder frech. Am 3.4. ist er dann zur Ortspolizei gegangen mit der Beschwerde, daß ich ihm geschlagen haben sollte. Der Amtsvorsteher hat daraufhin ihn in einer anderen Stelle umvermittelt, ohne die Genehmigung des Arbeitsamtes einzuholen und ohne meine Vernehmung hat er mir meine einzige Arbeitskraft entzogen. Der Marszuk erschien am Nachmittag des 3. April auf meinem Hofe mit einem Schreiben vom Amtsvorsteher, legte es draußen hin und rief mir zu, du


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Schweinehund kannst deine Arbeit alleine machen. Als Politischer Leiter der Ortsgruppe Treia der NSDAP. muß ich alle diese Vorkommnisse zur Anzeige bringen und bitte, die Sache weiterzuleiten, damit Marszuk seiner gerechten Strafe entgegen geht. Heil Hitler Carsten Hinrichsen." [36]

Der Dorfpolizist schrieb in sein Protokoll, der Zwangsarbeiter habe dem Landwirt Schläge angedroht. Er sei ohnehin ein Deutschenhasser. Der Landrat empfahl daraufhin die Einweisung in ein Konzentrationslager. Auf Anordnung der Gestapo in Kiel wurde der Ukrainer in das Arbeitserziehungslager in Watenstedt bei Braunschweig eingewiesen. Wie es hieß, für 28 Tage, doch die letzte Eintragung in den Akten vom 18. Juni 1942 lautet: "Martschuk ist dem Arbeitserziehungslager zugeführt und wegen seiner strafbaren Handlungen nach Mitteilung des Hauptwachtmeisters Jungjohann dort erschossen worden." [37]

Die meisten Dorfbewohner unterschieden sich von den strammen Nationalsozialisten. Wer über lange Zeit zusammen mit den Kriegsgefangenen arbeiten und leben mußte, fand auch zu einem stillen Einvernehmen. Die Gefangenen und Verschleppten wurden zu "unseren Polen", manche Zweckgemeinschaft entstand. Geschickt umging man die unmenschlichen Anordnungen von oben. Eine klare Trennung zwischen Deutschen und Polen wurde verlangt, und eine Maßnahme war, daß Polen und Deutsche nicht an einem Tisch sein durften. Die Polen sollten, wenn schon im selben Raum, dann immer an einem Tisch für sich sitzen. Wenn eine Kontrolle der örtlichen Parteileitung kam, konnte es mindestens eine Verwarnung geben, doch manchmal hieß es auch: "Wenn die Kontrolle kommt und die Polen sind da, werdet ihr abgeholt!" Bei den Kleinbauern, wo meistens in der Küche gegessen wurde, mußte ein Extratisch aufgestellt werden, wo der Zwangsgast dann seine Mahlzeit einnehmen konnte.

Diese Tischordnung wurde oft kontrolliert. Schwierig war die Situation da, wo eine Frau alleine mit einem Polen wohnte und wirtschaftete. Die Frau durfte sich natürlich auf keinen Fall mit einem Polen an einen Tisch setzen. In Havetoft erging es dem Hausmädchen Helene B. besonders schlecht. Sie hatte den beiden Kriegsgefangenen des Bauern D. dreimal täglich das Essen zur Kammer zu bringen. Damit wollte der Bauer verhindern, daß die Polen mit in der Küche aßen. Helene B. blieb bei den Kriegsgefangenen und unterhielt sich mit ihnen "viel länger als nötig." Außerdem hatte sie trotz Verbots Wurst und Schinken aufs Brot gelegt und Bier mitgebracht.

Diese menschliche Geste reichte aus, sie vor das Sondergericht in Kiel zu bringen. Das Gericht verurteilte sie zu einer Gefängnisstrafe von sechs Monaten, denn sie habe sich als "deutsches Mädchen" ehr- und pflichtvergessen aufgeführt: "Sie hatte mit den Kriegsgefangenen einen Umgang gepflogen, der dem Empfinden des deutschen Volkes widerspricht," urteilten die Richter. [38] In einem anderen Fall wurde eine Bäuerin aus Markerupheide verwarnt, weil sich 15 bis 20 polnische Arbeiter und Arbeiterinnen bei ihr zu einer Geburtstagsfeier getroffen und dort in der Lohdiele getanzt hatten. [39]

Doch wie die offizielle Lesart der Rassefanatiker war, wußte jeder. Als


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gegen Ende des Krieges einige Brandbomben auf Flensburg fielen, wurde das Ereignis im Nachbarort beim Einkauf im Tante-Emma-Laden diskutiert: "Es sind sieben Leute umgekommen", hörte Hansen von einem Kunden. Einer der Wartenden berichtigte: "Sechs Menschen – der siebte war ein Pole." [40]

Mila

Mila, ein 14jähriges Mädchen aus Rußland oder der Ukraine, kam zum Gastwirt Hermann J. und seiner Frau Alma in Neukrug bei Maasbüll. Hermann J. war einer der entschiedensten Anhänger der Nationalsozialisten im Ort. Er glaubte blind an die Propaganda von der "Rasse" und hielt sein Mädchen, das er wie eine Sklavin behandelte, für einen Untermenschen. Entsprechend ging er mit dem Mädchen um, das in seiner Heimat von der Wehrmacht oder der SS entführt und nach Maasbüll verschleppt worden war. Manche Tage war ihr Gesicht zugeschwollen von den Schlägen, die ihr Hermann J. verabreichte. Alle im Dorf wußten es, schwiegen aber lieber aus Furcht, denn J. hatte einflußreiche Freunde. Den Ortsgruppenleiter und Amtsvorsteher von Hürup, Metzger, den Hüruper SA-Mann J. und in Rüllschau den Kaufmann L. Sie wurden auch "die Polenpeitscher" [41] genannt.

Manchmal bezog Mila mehr Prügel, erinnert sich Werner Mühlmann, als daß es etwas zu essen gab: "Ich war mal da, da hatte Mila vergessen, die Milch abzusetzen. Die Mila fing schon an zu heulen, als Alma fragte, wo die Milch sei. 'Oh Mutter, oh Mutter', jammerte sie, 'nicht Vater sprechen, nicht Vater sprechen.' 'Was?', sagte Alma, 'hast du Milch vergessen? Ich Vater sprechen, ja, warte nur!' Hermann war kaum durch die Tür, als Alma ihm von Milas Untat erzählte, und er reagierte prompt: 'Waaas?' Ohne viel Reden haute er auf sie los. Wie, weiß ich nicht mehr, ich weiß nur, daß es wild zuging, und dann flog Mila quer durch die Küche und lag da. Was dann passierte, weiß ich auch nicht mehr, aber am nächsten Tag sah ich Mila, ihr Gesicht war ganz geschwollen, und Hermann grinste: 'Diese da', und er zeigte auf Mila, 'die sollen ab und zu mal ordentlich was hinter die Löffel haben, da haben sie gut von.'" [42]

Einmal stand die kleine Mila, die sehr unter Heimweh litt, am Bahnhof von Maasbüll. Ein Zug rauschte in Richtung Flensburg vorbei. Mila schaute nach den Menschen in den Fenstern. Plötzlich glaubte sie in einem der Reisenden ihren lang vermißten Bruder zu erkennen. Sie lief hinterher, immer den Schienen nach zum Bahnhof nach Flensburg. Dort wurde sie von der Polizei mitgenommen und auf das Polizeipräsidium gebracht. Hermann J. erhielt die Nachricht, daß Mila aufgegriffen worden war, und fuhr voller Grimm mit dem Fahrrad in die Stadt, um sie zu holen. Seine Reitpeitsche nahm er gleich mit. Mila mußte den ganzen Weg von Flensburg nach Maasbüll barfuß vor dem Rad herlaufen. Immer, wenn sie nicht schnell genug lief, schlug Hermann J. sie mit seiner Gerte.

Was nach der Befreiung aus Mila wurde, ist unklar, doch ihr Schicksal dürfte trostlos geblieben sein. Sie galt mit ihren anderen Schicksalsgenossinnen als unerwünschte "Displaced Per-


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sons" (DP), die möglichst bald zurückgeführt werden sollten. Zwar erhielten die DPs zunächst bessere Verpflegung als die deutsche Bevölkerung. Sie wurden aber in Lagern zusammengefaßt, und die britische Besatzungsmacht verfügte: "Nach Identifizierung durch sowjetische Repatriierungsvertreter werden sowjetische DPs ohne Rücksicht auf ihre individuellen Wünsche repatriiert." [43] Dort galten alle, auch die Kinder, als "Verräter des Vaterlandes". Sie wurden in der sowjetischen Besatzungszone vom sowjetischen Geheimdienst in Empfang genommen und verhört. Viele wurden dann entweder in sibirische Straflager eingewiesen oder später zu jahrzehntelanger Strafarbeit verurteilt. Die Willkür des sowjetischen Geheimdienstes bestimmte, wie zuvor die Gestapo in Deutschland, das Schicksal des Einzelnen. [44]

Hürup

Peter Jensen Ausacker beschrieb den Kreisleiter des Kreises Flensburg-Land, Claus Hans, nach Kriegsende als einen "aktiven Nazi der übelsten Sorte" und den "böse Geist des Kreises", der die Bauern und Arbeitgeber aufzuhetzen versuchte, die polnischen Arbeiter schlecht zu behandeln. Dieser "Totengräber Deutschlands" sei ein übler Kriegshetzer gewesen, der nicht vor nazistischen Terrormethoden zurückschreckte und seine untergebenen Ortsgruppenleiter unter stetem Druck gehalten habe, Taten auch gegen ihren Willen zu begehen. [45]

Der Kreisleiter, der gleichzeitig stellvertretender Landrat des Kreises Flensburg-Land war, mischte sich in einem Fall sogar persönlich in die Ermittlungen ein. Das war in Hürup. Eine junge Frau aus Hürup hatte sich mit einem Ukrainer aus Weseby angefreundet. Sie hatte sich, so wurde erzählt, erkundigt, ob sie den Ukrainer heiraten dürfe, was ihr zunächst zugesichert worden sei, später aber widerrufen wurde. [46]

Mehrere Gestapo-Beamte aus Flensburg erschienen bei dem Ukrainer in Weseby. Andere nahmen die junge Frau fest und brachten sie zum Büro des Amtsvorstehers und Ortsgruppenleiters Johannes Metzger, das sich im Wohnhaus auf dessen Hof hinter der Hüruper Meierei befand. Der Kreisleiter Hans kam zum Verhör der Frau hinzu. Sie gab zu, mit dem Ukrainer befreundet zu sein. Der Kreisleiter fuhr dann weiter zum Hof in Weseby, wo Gestapo-Beamte aus Flensburg den Ukrainer festgesetzt hatten. Nach dem Verhör wurde der Beschuldigte von der Gestapo abgeführt.

Währenddessen hatte bereits ein besonderes Spektakel vor der Hüruper Meierei seinen Lauf genommen. Ein grob gefügtes Pferdefuhrwerk war von einem Soldaten angespannt worden und stand bereit. Christine E. wurde vom Hof des Amtsvorstehers Metzger zur Meierei geführt. Der ursprüngliche Plan sah vor, daß Frau D., die Hebamme, der Frau dort die Haare abschneiden sollte. Als sie sich weigerte, meldete sich der SA-Mann Christian Sommer aus Tarup, der fortan einen Spitznamen hatte: "De Haaresnieder". [47] Christine E. wurde ein widerliches Schild umgehängt mit der Aufschrift: "Diese Drecksau hat mit einem Polen geschlechtlich verkehrt." [48] Einige besonders eifrige Zuschauer fotografierten.


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Zwei Hitlerjungen hielten die Tiere am Zügel. Denn gleich sollte der Spießrutenlauf beginnen. Alle Schüler der Hüruper Schule hatten schulfrei und waren mit dabei. Mit Glocken vornweg und Fahrradgeklingel ging der seltsame Umzug los. Die SA-Fahne trug J., den man statt eines eingezogenen SA-Mannes ausgewählt hatte, der aber selbst später berichtete, wie unwohl er sich dabei gefühlte hatte. Vorweg mit einer Glocke ging der SA-Mann Thomas J.

Es wurde überall an den Häusern geklingelt, doch viele wollten sich nicht an diesem schrecklichen Schauspiel beteiligen. Der Zug kam auch am Hüruper Pastorat vorbei. Der dortige Pastor Rösinger gehörte der Bekennenden Kirche an, was ihm erhebliche Schwierigkeiten und ein Verfahren wegen "Heimtücke" vor dem Sondergericht Kiel einbrachte, weil er bedauert hatte, 1933 Adolf Hitler gewählt zu haben. [49]

Auch am Pastorat wurde geklingelt, obwohl einige meinten, man sollte doch lieber vorbeigehen. Die Pastorenfamilie kam nicht an die Straße. "Das war unser bescheidener passiver Widerstand", erinnert sich Frau Kirsch, die Pastorentochter. [50]

Währenddessen war der Kreisleiter wieder beim Umzug aufgetaucht und hielt eine Rede an die Dorfbewohner, die zur Teilnahme gezwungen worden waren. Er erklärte, daß die junge Frau mit einem Bauernsohn aus Angeln verlobt sei. Diesem sei sie in den Rücken gefallen, während er die Heimat schütze, indem sie mit "dem Feind" intim geworden sei. [51]

Hans genoß diese Versammlung, während Metzger, der Ortsgruppenleiter, im Hintergrund blieb. Auch er hätte sicherlich gerne zum Volk gesprochen. Doch er war kein guter Redner und wohl auch sonst kein besonders heller Kopf. Wenn er doch einmal reden mußte, was ihm sein Kreisleiter aufgeschrieben hatte, las er sorgfältig vom Blatt. Dabei achteten alle auf sein "bitte wenden", wenn er am Ende der Seite angekommen war, und amüsierten sich heimlich über ihn. Eigene Ideen hatte er keine, dafür war er um so mehr bemüht, seinem Kreisleiter alles recht zu machen. Was man ihm auftrug, wollte er wenigstens genau in die Tat umsetzen.

Der Zug bewegte sich von Hürup nach Weseby zum Hof, wo der Ukrainer gearbeitet hatte. In Maasbüll in der Gastwirtschaft von Hermann J. kehrten die Herren vermutlich ein, um sich eine Stärkung zu genehmigen, während die 22jährige auf dem Wagen sitzen bleiben mußte, wie einige Dorfbewohner später zu berichten wußten.

Zur gleichen Zeit wurde auch ein weiterer Pole festgenommen und verschwand, weil er angeblich mit einer weiteren jungen Hüruperin befreundet gewesen sein soll. Auch dieser jungen Frau wurden zu einem späteren Zeitpunkt in einer Toreinfahrt die Haare abgeschnitten. Die beiden Frauen wurden vom Landgericht Flensburg jeweils zu einer längeren Haftstrafe verurteilt, die sie im Flensburger Gefängnis verbüßen mußten. Zu ihrer Arbeitsstelle bei der Näherei Kösel wurden sie jeden Morgen unter Bewachung von Gefängnisbeamten gebracht. Beide haben diese Schmach nie überwunden. [52]

Der Verbleib der beiden Kriegsgefangenen ist bisher ungeklärt. Sicher ist nur, daß sie nicht in Hürup hingerichtet wurden. Der inzwischen verstorbene Hansen schreibt in seinen Lebenserinnerungen, daß einer der beiden eines


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Sonntagmorgens in Tarup beim Kriegsgefangenenlager im alten Bahnhof der Kreisbahn an einem Baum erhängt worden sei. [53]

Diese Angabe könnte durchaus richtig sein. Das Gelände hinter dem 1998 abgerissenen Gebäude ist ansteigend, während der Bahnhof eine Einsicht von der Straße unmöglich macht. Sehr wohl könnte dort 1941 eine Hinrichtung stattgefunden haben, von der die Bevölkerung nichts erfuhr. Sicher ist nur, daß der Ukrainer ermordet wurde. Das hat die Kripo Flensburg nach dem Krieg ermittelt. [54]

Seltsam ist nur, daß sie bei ihren Nachforschungen nicht die einfachsten Regeln beachtete, die auch einem Laien sofort einleuchten. Bei einem Kapitalverbrechen, noch dazu bei einem Mord, wird normalerweise so lange ermittelt, bis wenigstens der Tatort und der Tatzeitpunkt klar sind. Die Kripo-Beamten hätten es sogar besonders leicht gehabt, sie hätten nur ihren ehemaligen Kollegen Ebeling von der Gestapo-Abteilung fragen müssen, von dem sie ohnehin intern wußten, daß er als Sachberbeiter für "Polenangelegenheiten" dem Unglücklichen die Schlinge um den Hals gelegt hatte.

Daß der Ukrainer die Gestapo-Methoden nicht überlebt hat, läßt sich auch aus einem anderen Fall aus Süderbrarup schließen. Dort beobachtete der Gendarmerie-Meister Steen am 3. Mai 1942 zwei Ukrainer, die eine junge Deutsche untergehakt hatten. Die drei waren auf der Großen Straße unterwegs und guter Dinge. Der Gendarm stellte die junge Frau zur Rede und nahm sie in "Schutzhaft". Am nächsten Tag verhörte er die 19jährige und erpreßte das Geständnis, daß sie mit Iwan Szpyltschin ein Liebesverhältnis habe.

Der Gendarmerieposten von Süderbrarup rief daraufhin bei dem Gestapo-Mitarbeiter Tietjen in Kiel an, ob die Polenverordnung auch für Ukrainier gelte. Der Gestapo-Mitarbeiter bestätigte, daß die Punkte 1 (Verbot den Aufenthaltsort zu verlassen), 2 (Verbot des eigenmächtigen Verlassens der Arbeitsstelle) und 7 (Todesstrafe bei Kontakt zu deutschen Frauen) auch für Ukrainer gelten sollten. Tietjen befahl dem Polizisten, ebenfalls den Ukrainer sofort festzunehmen und beide der Gestapo in Flensburg zuzuführen. Bei der Flensburger Gestapo leugnete Iwan Szpyltschin zunächst "hartnäckig", wurde dann jedoch zu einem "Geständnis" gezwungen. Dieser Vorfall zeigt eindeutig, daß die Gestapo in Kiel den Standpunkt vertrat, daß auch Ukrainier getötet werden sollten, wenn sie den Kontakt zu deutschen Frauen suchten. [55]

Die reichsweit durchgeführten Maßnahmen gegen deutsche Frauen, bei denen man den Unglücklichen auf öffentlichen Plätzen die Haare abgeschnitten hatten, waren nicht erfolgreich. Schließlich entschied der Führer persönlich im Dezember 1941, öffentliche Diffamierungen deutscher Frauen wegen sexueller Kontakte mit Ausländern in Zukunft zu unterlassen. Nun dachte man in den größeren Städten an die Errichtung von Bordellen in den großen Lagern. Dort sollten ausschließlich Ausländerinnen tätig werden, um "die Reinheit des deutschen Blutes" zu gewährleisten. [56]


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Tödliche Spielereien und grundlose Denunziationen

Oft waren es persönliche Reibereien, die zur Katastrophe führten, so zum Beispiel im Amtsbezirk Nordhackstedt. Weit abgelegen wohnte die 29jährige Bäuerin R. allein mit ihren drei Kindern und dem Schwiegervater unter einem Dach, während ihr Mann zur Wehrmacht eingezogen war. Josef Kowalczyk wurde ihr als Knecht zugewiesen. Er war in der Gegend sehr beliebt und galt als ordentlicher, redlicher Arbeiter. Beide freundeten sich rasch an. Einmal sagte sie im Scherz zu Josef: "Du verlierst deinen Kopf." "Nicht Kopf ab", antwortete er und deutete mit einer beschwingten Bewegung an seinen Hals.

Das intime Verhältnis der beiden wurde ihnen tatsächlich zum Verhängnis, als der Schwiegervater sie beim Amtsvorsteher von Nordhackstedt wegen des "liederlichen Lebenswandels" anzeigte. Der Amtsvorsteher Jacobsen, ein strammer Nationalsozialist, meldete die Sache weiter. Die Bäuerin erhielt eine langjährige Zuchthausstrafe, ihre Kinder wurden vom Flensburger Jugendamt anderweitig untergebracht, und Josef Kowalczyk wurde am 9. September 1942 in der Nähe des Bauernhofes von der Flensburger Gestapo ermordet. Im Einäscherungsverzeichnis des Flensburger Krematoriums ist richtig vermerkt: "Tod durch Ersticken." [57] Seine letzte Ruhestätte fand er auf dem Friedenshügel in Flensburg. Noch heute möchte im Dorf niemand über die Geschichte sprechen.

Das Dorf Dollrottfeld liegt nicht weit von Süderbrarup an der Straße nach Kappeln. Es ist ein sehr langgezogenes Dorf mit einem Gutshof am einen Ende der Siedlung. Ungefähr 20 Kriegsgefangene waren in Dollrottfeld im Abnahmehaus des Ortsbauernführers H. untergebracht. Beim Nachbarn Johannes H. war eine junge Frau "in Stellung", die sich mit einem Kriegsgefangenen aus der Umgebung angefreundet hatte. Das paßte genau in das Schema der reichsweit durchgeführten Exzesse gegen den Umgang mit Kriegsgefangenen, wie sie von der Reichsleitung der NSDAP angeordnet worden waren. Als die Liebschaft denunziert wurde, schaltete sich die Kieler Gestapo ein und beantragte die "Sonderbehandlung" gegen den Kriegsgefangenen.

Am 23. April 1941 schrieb die Stapo-Stelle Kiel an die Wehrmacht und bat um die Bereitstellung von Lastwagen zum Transport von 100 Personen wegen einer "polizeilichen" Maßnahme am 30. April 1941. [58] Als Hinrichtungsort wurde wiederum das Lagergelände ausgewählt, diesmal allerdings wollte man den Unglücklichen nicht an einem Baum erhängen, sondern an einem Telegraphenmast, der direkt in der Auffahrt des Anwesens an der Straße von Kappeln nach Schleswig (heute Bundesstraße) stand. Ein letztes "Verhör" fand im Beisein der Gestapo-Beamten und von Leitern der NSDAP statt. "Ja, ich habe eine deutsche Frau!" gab der Delinquent zu, als er noch einmal in der Wohnstube von Ortsbauernführer H. bedrängt wurde. [59]

Seine Henker hatten das "Urteil" des Reichssicherheitshauptamtes aus Berlin längst in der Tasche. Nun wurde es ihm vorgelesen, und er durfte einen Abschiedsbrief schreiben. Währenddessen marschierten die Kriegsgefangenen aus


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[Abb. 6: Friedenshügel Flensburg, polnisches Gräberfeld: Grabstätte für Josef Kowalczyk, geboren am 25. Februar 1901, ermordet am 9. September 1942 in Schafflundfeld]

Süderbrarup unter Bewachung die Landstraße herunter. Ungefähr 100 Landsleute wurden mit Lastwagen gebracht. Alle mußten am offenen Sarg vorbeimarschieren und sich vor der Toreinfahrt zum Abnahmehaus direkt an der Landstraße von Kappeln nach Süderbrarup aufstellen. Die Beamten der Kieler Gestapo liefen mit dem Strick über die Straße und ließen den Verurteilten heraufziehen. Er soll dort eine ganze Weile für alle sichtbar gehangen haben. Der Dorfbevölkerung wurde während dieser Hinrichtung der Zutritt nicht verwehrt, sie nahm daran allerdings nicht teil. Der jungen Frau wurden die Haare abgeschnitten; ob sie auch gerichtlich bestraft wurde, ist nicht bekannt. [60]

Besonders brutal und menschenverachtend ging der Gendarm von Havetoftloit vor. Er nahm am 30. Juli 1942 gleich zwei Polen fest. Das "Verbrechen" des 27jährigen Stanislaus Nowak aus Dankowice (Kreis Biala) bestand darin, daß er eine Bauersfrau angeblich dreimal geküßt haben sollte. Ein "Geständnis" gab es nicht, nur die Anzeige des Hausmädchens Dora M. Eine besondere Rolle spielte wohl auch, daß der Ehemann in der Sowjetunion an der Front kämpfte.

Stanislaus P., geb. am 2.12.1922 in Lopartno, Kreis Lopato, war der zweite Festgenommene. Als er in der Schusterwerkstatt in Havetoftloit arbeitete, hatten Kinder zu Hause berichtet, er habe "Kindern die Hosen geöffnet" und sie angefaßt. [61] Die Eltern hatten diese Geschichte an den Dorfpolizisten gemeldet. Der Gendarm kümmerte sich nicht um den Wahrheitsgehalt der Behauptungen. Sie waren nämlich nachweislich falsch, vielleicht hatte der Angeschuldigte Kindern nur in die reparierten Schuhe geholfen. [62]


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Persönlich verfaßter Notizzettel des Schleswiger Landrats Kolbe
(nach einem Telefonat mit der Gestapo in Kiel)

"Anordnung der Stapo. 23.4.41
1) Am Mittwoch den 30.4. um 9 Uhr sollen rund 100 Zivilpolen in Dollrottfeld bei dem Ortsbauernführer H[...] sein.
2) Zwei Gendarmen sollen am gleichen Ort von 7.45 - 10 Uhr zur Beaufsichtigung des Verurteilten zur Stelle sein.
3) Genügend Gendarmen sind zur Vorführung der Zivilpolen vorzusehen.
4) Es ist darauf zu achten, daß alle Zivilpolen das P angenäht haben. Es darf nicht wieder vorkommen, daß der Pole im letzten Augenblick das "P" mit Stecknadeln anpickst. Dieses ist ein Beweis, daß die Kontrolle mangelhaft ist.
K[olbe] 23.4." [63]

Die Bauersfrau kam in "Schutzhaft" und wurde in ein Konzentrationslager gebracht. Während ihrer Haft wurden die fünf kleinen Kinder von der NS-Frauenschaft versorgt.

Die beiden völlig unschuldigen Kriegsgefangenen wurden am 23. September 1942 im Wald von Dammholm ermordet. Nicht nur alle Polen aus der Umgegend mußten antreten, sondern auch eine größere Anzahl von Parteigrößen waren als Zeugen gekommen. Diese Hinrichtung fotografierte ein polnischer Zwangsarbeiter heimlich. Nach dem Krieg haben angeblich einige Dorfbewohner dieses Foto gesehen und sogar einige der Täter darauf erkannt. Das Foto wurde vermutlich mit nach Polen genommen. [64]

In allen Fällen wurden von den Frauen Geständnisse erpreßt, wohl auch unter der Anwendung von Foltermethoden und Schlägen. Nur in einem einzigen Fall blieb eine Frau standhaft und widersetzte sich der pseudo-juristischen Verfolgung. Der Bauer Otto F. aus B. denunzierte 1942 seinen polnischen Zivilarbeiter Johann L. beim Dorfpolizisten, weil er oftmals erst nachts nach Hause käme. Der Bauer vermutete, daß er solange bei der Nachbarin blieb.

Wachtmeister Lenz von Schleswig-Dannewerk holte sich Verstärkung und ging gemeinsam mit dem Gendarmen von Taarstedt zum Haus der Frau. Um kurz nach 11 Uhr abends klopften die Gendarmen an das unbeleuchtete Stubenfenster der Frau. Energisch verlangten die Polizisten Einlaß und polterten an der Tür. Schon nach kurzer Zeit lief die Hausfrau an die Tür und öffnete. Die beiden Polizisten drangen ins Haus ein und durchsuchten die Wohnung. Schließlich fanden sie Johann auf dem Dachboden, er hatte in der Eile keine Strümpfe und Schuhe anziehen können.

Für die Polizisten schien alles klar zu sein. "In der Schlafstube standen 2 Betten, von denen nur das eine mit Bettzeug versehen war, in dem beide gelegen hatten. Dringender Verdacht den Geschlechtsverkehr ausgeübt zu haben liegt hier vor." In der späteren Vernehmung bemühten sie sich, der Frau Formulierungen nahezulegen, die sie belasten würden. Eine weitere Hinrichtung konnte ins Auge gefaßt werden. Doch es kam anders. Sie hatten nicht mit der Klugheit der Frau gerechnet, die letztlich alles abstritt und auch in den Ver-


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[Abb. 7: "Kriegsgräberfürsorge" in Norderbrarup: Der polnische Kriegsgefangene Stefan Wynnyezenko, geb. am 2. Oktober 1917, wurde am 14. Januar 1945 vom Gendarm in Norderbrarup wegen Widersetzlichkeit erschossen. 1999 ist sein Grab aufgegeben, das zerstörte Grabkreuz befindet sich am Glockenturm]

hören der Gestapo alles leugnete.

"Wie mein Mann dann am 1. Juni 1940 eingezogen wurde, sagte er zu mir, ich solle den Polen weiterhin hier in Arbeit behalten. Das tat ich denn auch und so wurde ich im Laufe der Zeit mit dem Polen immer näher bekannt. Das muss ich sagen, der Pole war immer ein sehr fleissiger und aufmerksamer Mann, auch war er zu meinem Kinde und meinem Pflegekinde sehr nett, die Kinder haben sehr an ihm gehangen. Als mein Mann noch hier war, hat der Pole schon immer fleissig bei uns gearbeitet. Seit Juni 40 trug L. auch nicht mehr das für die Polen vorgeschriebene "P". Er fuhr nach Schleswig, Steinfeld und auch nach Neumünster, bekam mehr als 70 Rmk. Lohn von dem Bauern F. und ich habe ihn aus diesem Grunde nie für einen Polen gehalten. Auch die Leute aus meiner Nachbarschaft hielten ihn nie für einen Polen und haben, gleichwie ich, mit ihm verkehrt und sich mit ihm unterhalten, wie mit jedem Deutschen. Auch wenn ich an meinen Mann schreib, fügte Johann oftmals noch einen Gruss mit bei. Auch mein Mann ließ ihn grüssen. So kam es im Laufe der Zeit, dass es bei uns total in Vergessenheit geraten war, dass Johann ehemals ein Kriegsgefangener war. Dazu kam noch, dass der Johann ein fehlerfreies Deutsch sprach und sich somit auch in dieser Hinsicht von den Polen unterschied. Nun will ich den Verlauf des letzten Sonntages mal schildern [...] Am Sonntag nachm. hat der Johann Bohnen gelegt und auf der Wiese das Kälberkraut herausgerissen. Zu Mittag, zu Kaffee und zum Abendbrot hatte ich den


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Johann, wie immer, mit am Tisch. Wir assen schon seit Jahren immer mit ihm zusammen am Tisch. Gegen 20 oder 20 1/2 Uhr assen [wir] unser Abendbrot, dann brachte ich gegen 21 Uhr die Kinder zu Bett. Johann sass während dieser Zeit in meiner Wohnstube und besah sich die Lesemappe. Seine Schuhe hatte er ausgezogen und dafür die Latschen meines Mannes angezogen. Seit langer Zeit wasche ich dem Johann schon die Wäsche und zwar tu ich dies, nachdem Frau F. mich darum gebeten hatte. Es wurde dann langsam dunkel, Licht machten wir nicht an. Ich hatte noch die Absicht, seine Wäsche einzupacken und seine Fusslappen herzusuchen, kam aber nicht mehr dazu, denn in dem Augenblick klopfte jemand ans Fenster. Es war nicht gerade hell aber doch so schummerig, dass man bestimmt nicht mehr lesen konnte. Wie angeklopft wurde, sah ich nach dem Fenster und sah einen Tschako. Ich rief: "Ja" und wollte die Tür aufmachen. Da erschrak der Johann sehr und schrie: "Oh, oh, meine Hosen, meine Hosen, ich muss meine Hose haben" und dann lief er in seiner Angst nach dem Boden. Ich ging an die Tür und liess den Gendarmen herein, und sagte auf dessen Frage nach dem Polen, dass ich nicht wisse, wo er sei. In Wirklichkeit wusste ich ja genau, dass der auf den Boden geflüchtet war. Ich war aber im ersten Augenblick so verwirrt und verängstigt, dass ich log. Da kam mir auch zu Bewußtsein, dass ich zur Nachtzeit einen Polen in meinem Hause hatte. Der Wachtmeister ging dann auf den Boden und rief: "Johann." und der kam barfuss, bekleidet nur mit einer Hose, einem Hemd und einer Weste vom Boden herunter. Johann ging dann in die Küche und hat sich hier angezogen. Ich musste dem Wachtmeister gegenüber doch zugeben, dass ich wohl wusste, wo der Pole war. Dass ich log, ist darauf zurückzuführen, dass ich sehr erregt war. Ich sehe heute wohl ein, dass es sehr ungeschickt war von dem Johann, auf den Boden zu flüchten und von mir, die Unwahrheit zu sagen.

Wenn mir vorgehalten wird, dass nach Lage der Sache mit der Möglichkeit zu rechnen ist oder anzunehmen ist, dass ich den Polen mit ins Bett benommen habe, so will ich dazu folgendes sagen: Ins Bett genommen habe ich den Polen noch niemals. Ich habe auch nicht an anderen Stellen mit ihm geschlechtlich verkehrt. Ich habe auf geschlechtlichem Gebiet mit dem Polen auch nicht das geringste vorgehabt. Er hat noch niemals hier eine ganze Nacht verweilt, wohl ist es öfters recht spät geworden, ehe der Johann heim kam. Aber dann hatte er hier gearbeitet und zwar tüchtig, vielleicht habe ich ihm ab und zu etwas zu essen und zu trinken gegeben und so kam es, dass er spät nach Hause kam. Not leiden wir hier im Hause nicht [...] Ich sehe ein, dass ich durch mein Verhalten und vor allen Dingen, dass der Pole durch seine Flucht auf den Boden mich in einen gewissen Verdacht gebracht hat. Aber ich kann frei sagen, dass ich auch noch nicht das geringste mit dem Mann zu tun hatte. Er hat sich mir niemals genähert, so dass ich manchmal mich selbst wunderte und ich zu Nachbarn schon sagte: "Der Mann hat nur seine Arbeit und sonst nichts im Kopf." Ich hätte ihn zweifelsohne abgewiesen, wenn er sich mir genähert hätte genau so, wie ich andere Männer zurückwies, die sich Bemerkungen erlaubten. Das ist alles, was ich zur Sache sagen kann.


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Auf Anraten meiner Nachbarin ging ich am Montag vorm. zu Dr. L., um mich untersuchen zu lassen. Ich habe dem Arzt gesagt, dass ich im Verdacht stände, mit einem Polen geschlechtlich verkehrt zu haben, Dr. L verwies mich daraufhin an den Kreisarzt. Da ging ich am Dienstag zum Kreisarzt Dr. Rockstroh. Dr. Rockstroh sagte mir, es wäre an der Gebärmutter nichts zu finden." [65] Frau W. überstand auch die späteren Verhöre der Gestapo und scheint mit einer Verwarnung davongekommen zu sein. [66]

Nicht alle waren allerdings so standhaft und beherzt wie Frau W. Sehr viele Menschen, die noch nie mit der Polizei zu tun hatten, hielten dem psychischen Druck der Vernehmungen nicht stand. Einer der besonders brutalen Beamten war Wilhelm Woinke, der von einem Kollegen der Kripo später als ein "außerordentlich gehässiger Mensch" geschildert wurde, der vielen Leuten nachgestellt und sie äußerst ungerecht behandelt habe. [67] In mindestens einem Fall endete der Terror dieses Mannes, der als Henker "mustergültige" Erdrosselungen selbst durchführte, mit einem Selbstmord.

Der Bauer Peter F. aus einem Dorf auf der Geest bewirtete auf seinem einsamen Gehöft Petr Tschurajewski mit Kaffee, Kuchen, Fruchtsaft und einem Löffel Honig zum Süßen des Kaffees. Dann schenkte er dem russischen Kriegsgefangenen ein Bild seiner Familie. Petr Tschurajewski nahm das Bild mit zu sich in seine Kammer beim Bauern H., bei dem er arbeiten mußte.

Der Bauer H. war weniger freundlich. Er zeigte den Kriegsgefangenen an, weil der angeblich seiner besten Kuh "den linken Strich" aus Bosheit aufgeschnitten habe. Wilhelm Woinke von der Gestapo-Stelle Niebüll übernahm die Ermittlungen und fand in der Kammer von Petr Tschurajewski das Foto der Familie F.

Peter F. gab zu Protokoll: "Weil meine Frau und ich ihn als Mensch so schätzten, gaben wir ihm aus Dankbarkeit eine Aufnahme, auf der meine Tochter, meine Frau und ich abgebildet waren." Nun verfolgte Wilhelm Woinke den Bauern unbarmherzig, der im Familienkreis immer öfter über Rückenbeschwerden und Unwohlsein klagte.

Überall bei den Nachbarn fragte Woinke nach, ob es noch mehr Verdachtsmomente gebe. Besonders interessierte ihn, welches Verhältnis Peter F. zu einer Polin gehabt habe, die bei ihm beschäftigt gewesen war. Er sprach von dem Verdacht, Peter F. könnte sich mit ihr eingelassen haben. Am Abend des 5. Dezember 1943 ging der Verleumdete zum Dorfpolizisten und erfuhr von den Verdächtigungen.

Am nächsten Morgen stand Frau F. wie gewohnt um sieben Uhr mit ihrem Mann auf und melkte wie jeden Morgen die Kühe. Gegen acht kam sie wieder in die Stube und fand einen Zettel ihres Mannes: "Nimm E. und die Kinder heraus, nimm Dich in Acht für C. &?; E. Euer kranker Vater Sei tapfer." Sie fand ihn in der Torfscheune. Dort hatte sich Peter F. erhängt. [68]

In einem anderen Fall gab es jedoch letztlich ein Happy-End. Die zwanzigjährige M. hatte im Mai 1941 den polnischen Kriegsgefangenen M. kennengelernt. Als im Mai 1942 ein Kind der beiden geboren wurde, übernahm der gefürchtete Flensburger Gestapo-Mann und Henker Ebeling die Ermittlungen. Der Kriegsgefangene tauchte sofort unter, und M. wurde im August 1942


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Name Geburtsort/datum letzter Wohnort Sterbedatum/ort
Biotrowitsch, ? unbekannt   Kropp
Goballa, ? unbekannt Haidbunge Kropp
Kasprzak, Jan unbekannt   10.10.1944 Oster-Ohrstedt
Kowalczyk, Josef 25.1.1901 Kirchdorf ? 9.9.1942 Schafflundfeld
Kutowski (?), Stephan unbekannt Braderup Braderup
Krysiak, Tadäus unbekannt Lindaufeld ?
L[...], Hans 25.5.1916 Radczyk Sieverstedt 12.3.1941 Sieverstedt
Mussialeck, ? unbekannt   Kropp
Nowak, Stanislaus 27.5.1915 Dankowice/ Biala Havetoftloit 23.9.1942 Havetoftloit
P[...], Stanislaus 2.12.1922 Loparto Havetoftloit 23.9.1942 Havetoftloit
Stypka, Franz (Pole) Schuby ?
Szpyltschin, Iwan 15.9.1915 Ukraine Steinfeld ?
Ziminko, Anton 16.5.1914 Puhaczewo (Brest-Litowsk) Gammelby 13.4.1944 Gammelby

Abb. 8: Hinrichtungen von Kriegsgefangenen im Raum Flensburg/Schleswig. In vielen Fällen sind keine genaueren Daten und Informationen über die Ereignisse mehr ermittelbar gewesen

vom Sondergericht Kiel zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt. Der Säugling sollte zunächst zu Bekannten in Pflege gebracht werden, die ihn adoptieren wollten. Als sie jedoch hörten, wer der Vater war, hatten sie plötzlich kein Interesse mehr. Die junge Mutter wurde erst im Februar 1944 auf Bewährung aus dem Zuchthaus entlassen, nachdem der Bauer, der die beiden beschäftigt hatte, immer wieder an das Zuchthaus und die Behörden geschrieben und sie darin als fleißig, zuverlässig und bescheiden geschildert hatte: "Sie hat unserer Vertrauen und unsere Zuneigung in einem Maße erworben, dass wir sie als Kind im Hause betrachteten." Die junge Familie konnte erst nach dem Krieg zusammenkommen. Die Eltern heirateten und zogen nach Eckernförde. [69]

Auch Kasimir A., der bei einem Bauern in Husby gearbeitet hatte, blieb. Er lernte nach dem Krieg eine junge Flüchtlingsfrau aus Ostpreußen kennen, die auf dem gleichen Hof lebte, und heiratete sie. Heute wohnt das Ehepaar in der Nähe von Sörup.

Die Liebe zwischen einer deutschen


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Frau und einem polnischen Kriegsgefangenen konnte auch glücklich ausgehen, wie eine Geschichte aus der Nähe von Kappeln zeigt. Auch dort war die Liebschaft der beiden ein offenes Geheimnis, doch alle vertuschten das Verhältnis. Sogar als die Frau von ihrem Freund schwanger wurde, schwieg sich die Nachbarschaft aus, und die junge Frau sagte verständlicherweise nichts über den Vater. Nach der Kapitulation zog sie dann nach Polen und heiratete dort ihren Geliebten. Ihre Eltern erhielten immer eine Besuchserlaubnis für einige Tage, um die Verwandtschaft in Polen zu besuchen. [70]

Anmerkungen

1. Freytag, Erwin: Chronik des Kirchspiels Sieverstedt. 1983, S. 149f.

2. Auskunft von Frau Petersen, Sieverstedt.

3. Herbert, Ulrich: Fremdarbeiter. Politik und Praxis des "Ausländer-Einsatzes" in der Kriegswirtschaft des Dritten Reiches, Berlin/Bonn 1985, S. 77.

4. Delarue, Jacques: Geschichte der Gestapo. Königstein/Ts. 1979, S. 193.

5. Auskunft von Frau Petersen, Sieverstedt.

6. Schleswig-Holsteinisches Landesarchiv, Schleswig (LAS) Abt. 354 Nr. 2781.

7. ebenda, Vernehmung des Lehrers Wüstefeld.

8. LAS Abt. 354 Nr. 2781.

9. Herbert, a.a.O., S. 80.

10. Herbert, a.a.O., S. 123.

11. Paul, Gerhard: Braune Nordmark, in: Geschichtsumschlungen, hrsg. von Gerhard Paul, Uwe Danker und Peter Wulf, Bonn 1996, S. 216.

12. Paul, a.a.O., S. 212ff.

13. Vgl. Seeger, Andreas: Gestapo-Müller. Die Karriere eines Schreibtischtäters, Berlin 1996.

14. Erlasse des RSHA vom 23.10. und 5.11.42. Vgl. Herbert, a.a.O., S. 245.

15. Herbert, a.a.O., S. 127ff.

16. Heusler, Andreas: Ausbeutung und Disziplinierung. Zur Rolle des Münchner Sondergerichts und der Stapoleitstelle München im Kontext der nationalsozialistischen Fremdarbeiterpolitik. In: forum historiae iuris, 15.01.1998 (http://www.rewi.hu-berlin.de/FHI/inhalt.htm).

17. LAS Abt. 320, Schleswig L., Nr. 183.

18. ebenda

19. Bundesarchiv Koblenz (BA) Z 42, III / 3655, Bd. 1, p. 37: Vernehmung Krim. Sek. a.D. Günther vom 19.08.47.

20. Gespräch mit Frau Petersen, Sieverstedt.

21. BA Koblenz, Z 42 III/979, p. 29. Vernehmungsprotokoll Mohr vom 29.06.47 in Stade; Bundesarchiv Koblenz, Z 42 III/566, p. 30. Spruchkammer Hiddesen, Vernehmung Ahrweiler vom 21.10.47.

22. BA Koblenz, Z 42 III/566, Vernehmung Ahrweiler vom 21.10.47. (Bestand IZRG).

23. Gespräch mit Herrn Lekker, Kropp.

24. Heusler, a.a.O.

25. LAS Abt. 320, Schleswig L., Nr. 183.

26. Gespräch mit Herrn Lekker, Kropp.

27. Hermine H[...], geb. 20.08.19, Häftlingsnr. 1370/1943 umgekommen in Auschwitz-Birkenau am 06.01.43. IZRG-Datenbank, Schleswig. Hinweis von Erich Koch, Schleswig.

28. Herbert, a.a.O., S. 36.

29. LAS Abt. 358, Nr. 5072.

30. Archiv ved Dansk Centralbibliotek Flensborg, P 344: Werner Mühlmann, Lebenserinnerungen: Die polnischen Kriegsgefangenen in Husby und Umgebung von 1940 bis 1946.

31. LAS Abt. 358, Nr. 5072.

32. LAS Abt. 320, Schleswig L., Nr. 183.

33. Auskunft von Wilhelm Sell, Flensburg; Mühlmann, a.a.O.

34. Mühlmann, a.a.O.

35. LAS Abt. 320, Schleswig L., Nr. 183.

36. ebenda.

37. ebenda.

38. Flensburger Nachrichten, 27.11.1941.

39. LAS Abt. 354 Nr. 2462.

40. Barn og ung i Sydslesvig 1900 – 1982, Flensburg 1986, S. 232.

41. Mühlmann, a.a.O.

42. Mühlmann, a.a.O.

43. Schwarze, Gisela: Kinder, die nicht zählten. Ostarbeiterinnen und ihre Kinder im Zweiten Weltkrieg. Essen 1997, S. 207.


//70//

44. ebenda, S. 209.

45. BA Koblenz, Z 42 III/3633, Bd. 1, p. 8a: Ermittlung der Kripo Flensburg.

46. ebenda.

47. Auskunft Wilhelm Sell, Flensburg.

48. BA Koblenz, Z 42 III/3633, Bd. 1: Ermittlungen der Flensburger Kripo.

49. Archiv IZRG, Hinweis von Herrn Koch.

50. Gespräch mit Frau Kirsch, Rüllschau.

51. BA Koblenz, Z 42 III/3655, p. 11.

52. Auskunft von Wilhelm Sell, Flensburg.

53. Barn og ung i Sydslesvig, a.a.O., S. 232.

54. BA Koblenz, Z 42 III/3655, Bd. 1: Ermittlungen der Polizeigruppe Flensburg gegen den Kreisleiter Hans vom 12.07.47.

55. LAS Abt. 320, Schleswig L., Nr. 183.

56. Herbert, a.a.O., S. 127.

57. LAS Abt. 358/5386; Paul, Gerhard: Staatlicher Terror und gesellschaftliche Verrohung. Die Gestapo in Schleswig-Holstein, Hamburg 1996, S. 217.; Stadtarchiv Flensburg VI E 149.

58. LAS Abt. 320, Schleswig L., Nr. 183.

59. Gespräch mit Herrn und Frau Cordsen und Frau Matusch am 30. u. 31.03.1999.

60. Auskunft von Frau Matusch, Dollrottfeld.

61. LAS Abt. 320, Schleswig L., Nr 183.

62. Auskunft von Herrn Albertsen, Havetoftloit.

63. LAS Abt. 320, Schleswig L., Nr. 183. Notizen des Landrats Kolbe über ein Telefongespräch mit der Stapo-Stelle Kiel.

64. Auskunft von Herrn Albertsen, Havetoftloit.

65. LAS Abt. 320, Schleswig L., Nr. 183. Dr. Rockstroh war Richter beim Erbgesundheitsgericht Flensburg und verantwortlich für eine Vielzahl von Zwangssterilisationen vor allem von Patienten des Landeskrankenhauses in Schleswig.

66. Auskunft des Sohnes.

67. BA Koblenz, Z 42 III/3638, Bd. 1, p. 54, Vernehmung Krim. Sekretär a. D. Schiller.

68. LAS Abt. 354 / 2484.

69. LAS Abt. 358 / 6262.

70. Auskunft von Hermann E. aus R.

Abbildungsnachweise

Abb. 1: Foto Peter Jacobsen, Braderup
Abb. 2: Standesamt Sieverstedt
Abb. 3: Sammlung Claus Olsen, Flensburg
Abb. 4: Archivet ved Dansk Centralbibliotek, Flensburg P 334.
Abb. 5: Foto Uwe Steen, Schleswig
Abb. 6, 7: Foto Claus Olsen, Flensburg
Abb. 8: Zusammengestellt von Claus Olsen, Flensburg


Veröffentlicht in den Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte Heft 36 (1999) S. 39 - 78. Im Original enthält der Beitrag 9 Abbildungen.


Der Verfasser: Claus Olsen, geboren 1958, Studium der Germanistik und Geschichte in Kiel und Aarhus/Dänemark. Geschichtslehrer, beschäftigt im Bildungsbereich. Lebt in Flensburg. Veröffentlichungen zur Weiterbildung und zur schleswig-holsteinischen Geschichte, u.a. zur schleswig-holsteinischen Diakonie, zur Flensburger Sozialdemokratie und zur Lokalgeschichte.


Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte Heft 36

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