Frauke Dettmer

"Ich bin gesund und es geht mir gut."

Briefe aus Konzentrationslagern und Ghettos

Kann man Auschwitz, Theresienstadt, Neuengamme vermitteln? Mehr als 50 Jahre nach Kriegsende erscheint es immer schwieriger, diese Schreckensorte aus der zeitlichen Entfernung zu holen und besonders Jugendlichen eine Ahnung davon zu vermitteln, was sich dort unter Tätern und Opfern vollzog. Manchmal sind es gerade alltägliche Gegenstände, denen es gelingt, die Distanz und die heute unter vielen Jugendlichen verbreitete Abwehrhaltung gegenüber der Auseinandersetzung mit der NS-Geschichte zu durchbrechen. Die Namen Dachau, Litzmannstadt, Westerbork oder Gurs als Aufdruck auf Briefen, als Absenderadresse im Briefkopf und auf den Umschlägen können die Orte und Geschehnisse in eine gewisse Nähe rücken, greifbarer machen.

Seit einigen Jahren sammele ich deshalb für das Jüdische Museum Rendsburg Karten und Briefe von KZ- und Ghettohäftlingen, um sie in die pädagogische Arbeit mit Jugendlichen einzubeziehen und in einer zukünftigen erweiterten Dokumentation auszustellen. [1]

Ganz alltäglich sind diese Postdokumente allerdings nicht. Daß sie noch immer in Nachlässen auftauchen, spricht dafür, wie sehr sie als seltene, oft letzte Lebenszeichen aus einer Totenwelt gehütet wurden. Man sieht es ihnen an: zerschlissenes Papier, unzählige Male auseinandergefaltet, jedes Wort darauf nach seiner Bedeutung abgesucht, wieder zusammengelegt und verwahrt, oft in einer Kleider- oder Jackentasche direkt und tagtäglich am Körper getragen bis zum fast völligen Verschleiß. (Siehe die Abbildung der Karte aus Birkenau.)

So armselig diese Dokumente sind - sie stammen in der Regel von Häftlingen, die in der Hierarchie des Terrors zu den privilegierten Gruppen gehörten, also zu den westeuropäischen oder tschechischen und polnischen Häftlingen in Buchenwald, Dachau, Sachsenhausen, seltener in Auschwitz, Ravensbrück, Neuengamme, Mauthausen, Flossenbürg und Groß-Rosen, als absolute Ausnahme in Lagern wie Bergen-Belsen, Lublin, Natzweiler und Stutthof. [2] Keine Nachrichten gibt es aus den Vernichtungslagern Belzec, Sobibor, Treblinka, Chelmno. Die Paria der Lager, die sowjetischen Häftlinge, die Zigeuner und die Juden waren vom Postverkehr ausgeschlossen.

Ausnahmen bestanden für jüdische Gefangene in Lagern wie im niederländischen Westerbork und französischen Gurs und in Ghettos wie Theresienstadt und Litzmannstadt. Die Post aus den Ghettos durfte nicht mit der zivilen Post befördert werden, sondern nur über die zwangsweise eingerichteten jüdischen Organisationen wie die Judenräte oder die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland. Karten mit dem Aufdruck "Schicket mir keine Pakete mehr hierher und wartet neue Adresse ab" waren meistens das letzte Lebenszeichen der Gefangenen aus Theresienstadt. Die "neue Adresse" bedeutete Weiterdeportation nach Auschwitz. Totale Postsperre galt für die "Nacht-und-Nebel"-Gefangenen aus den Widerstandsbewegungen der besetzten westeuropäischen Länder, die, ohne eine Spur zu hinterlassen, verschwinden sollten. [3] D.h. ca. 80% aller Gefangenen waren vom Postverkehr ausgeschlossen.

Für die Briefe und Karten galten strikte formale und inhaltliche Regeln, die jeder Häftling beachten mußte, wenn er nicht die Vernichtung des Geschriebenen riskieren wollte. Die Texte mußten in deutscher Sprache auf bestimmten Formularen verfaßt sein und durften nur Grüße, Dank für erhaltene Post oder Pakete, Erklärungen über den - guten - Gesundheitszustand und Fragen nach Verwandten enthalten. Die folgenden Zitate stammen aus Briefen polnischer und tschechischer Häftlinge.

"Auschwitz, 14.2.1943. Liebe Stefa und Hanso! Brief habe ich erhalten, für welchen danke ich herzlich. Ich bin gesund und fühle mich gut. Die Lebensmittel sende mir wie früher, nur öfter.... Ich begrüße Euch und Eltern, Euer Strassel [= Kosename, eigentlich Stanislaw]."

"Mauthausen/Gusen, den IX 1942. Meine liebe Olusko und teuere Kinder! Deine 2 Briefe habe ich dankend erhalten und es freut mich sehr, dass Sie alle gesund und glücklich sind. Ich bin gesund und es geht mir wohl... Olus, habe um mich keine Sorge, ich weiss, dass Du immer an mich denkst... Wie lebst Du mit Eltern?..."

"Ravensbrück, den 20. März 44. Mein innig geliebtes Kind, Schwägerin und ... [unleserlich]! Warum schreibt Ihr nicht? 3 RMK dankend erhalten. Schreibt mir bitte trotzdem ich nicht schreibe, denn ich muß auch an meinen Mann schreiben. ... Liebe Fela, schreibe mir wie gehts Mutter Czeslaus, Kasimir u. Hela in Tynia?..." [4]

In der Regel war den privilegierten Gefangenen erlaubt, ein- oder zweimal im Monat Post zu schicken, so daß sie genau überlegen mußten, an wen sie schrieben. Auch der Postempfang war auf höchstens zweimal im Monat beschränkt. Die Einhaltung der Vorschriften wurde durch mehrfache Kontrollen - Blockältester, Blockführer, Poststelle, Schlußzensur - sichergestellt.

Um einen Brief abschicken zu können, mußten enorme Schwierigkeiten überwunden werden. Es galt, ein Briefformular und Schreibzeug zu organisieren, gegebenenfalls einen "Übersetzer" zu finden und zu entschädigen, der den Text in Deutsch schreiben konnte, und schließlich eine Briefmarke zu besorgen. Sie durfte nur an einer Ecke aufgeklebt werden, damit die Zensoren die Rückseiten überprüfen konnten. [5]

Trotz Mehrfachzensur gelang es zuweilen, durch Umschreibungen oder ähnliches Nachrichten über die Lagerwirklichkeit, über Exekutionen oder ankommende Transporte hinauszuschmuggeln. Jüdische Häftlinge mit entsprechenden Kenntnissen benutzten manchmal hebräische Wörter, um Botschaften weiterzugeben, z.B. das Wort für Hunger, "row", das sie in "Grüße an Onkel Row" verschlüsselten. [6] In Einzelfällen hatte man vor der Verhaftung oder Deportation Codewörter verabredet. In dem Brief einer Tschechin aus Ravensbrück vom Februar 1944 steht der völlig aus den Briefschemata herausfallende Satz: "Die Luft ist hier wunderschön und sehr stark." Vielleicht enthielt er eine Botschaft, die der Empfänger verstand.

Einiges ist den Briefen über die Absender zu entnehmen - Name und damit meistens die Nationalität, Alter, Barackennummer, Lager. Aus Grüßen zu bestimmten Festen kann man die Religionszugehörigkeit erkennen, aus Anreden und Grußformeln den Familienstand und die familiären Verbindungen: "Meine Liebsten! Deine Postkarte ... habe ich erhalten u. für die Geburts- und Namenstagswünsche danke ich herzlich." (Dachau, 16.6.1940.) Manchmal erfährt man etwas über die bisherige Haftdauer: "Schon 2 Jahre sind vorbei, der Liebe Gott schützt uns." (Mauthausen, Sept.1942.)

Über den tatsächlichen Zustand des Häftlings fällt kein Wort, denn fast nichts in den bestürzend ähnlich lautenden Zeilen entspricht der Wirklichkeit. Es sind Konstruktionen einer fiktiven Realität - unter dem doppelten Druck von Zensur und Rücksichtnahme auf die Angehörigen: "Ich bin gesund und es geht mir gut." "Ich bin gesund und fühle mich gut." "Bei mir ist auch alles in allerbester Ordnung." "Ich bin gesund, was ich auch Dir und dem Rest wünsche." " Um uns kümmert Euch nicht, denn wir sind alle gesund u. es geht uns gut." Realistischere Darstellungen sind die Ausnahme und werden sogleich abgemildert: "Zwei Tage war ich im Lazarett. Das Herz habe ich wie immer sehr schwach. Aber jetzt ist wieder besser." (Auschwitz, März 1943)

Die Lagerrealität wird nur zwischen den Zeilen vermittelt, vor allem durch die überragende Bedeutung des Briefeschreibens und Postempfangens für die Gefangenen, die an diesen schäbigen Dokumenten überaus deutlich wird. Es war die einzige Möglichkeit, mit der Welt außerhalb der Lager Kontakt zu halten. "Arbeitslager Wien-WR Neudorf, 1944. Meine Liebe Lili! Ich habe deine Karte am 20.VIII. erhalten. Sie hat mir unbeschreibbare Freude gemacht..." "Neuengamme, den 26.IX.43. Meine liebste Mutti! Deinen Brief vom 19.d.M.hab ich vorgestern erhalten, wie immer mit größter Freude..."

Entsprechend dringlich wurde immer wieder appelliert: "Schreibt öfter! Warum schreibt Ihr so selten?" Die Postsperre als individuelle oder kollektive Strafe erlebten die Gefangenen als besondere Härte. Das Abgeschnittensein von außen war auch in den Internierungslagern wie Gurs für viele schwerer zu ertragen als Hunger und Dreck. [7] Nachdem ab Oktober 1942 ausdrücklich durch Anordnung Heinrich Himmlers Paketempfang erlaubt war - als Beitrag zum Kräfteerhalt der mehr und mehr in der Rüstungsproduktion benötigten Arbeitssklaven [8] - bedeutete dies zudem oft lebensrettende oder -verlängernde Versorgung mit Lebensmitteln, Kleidung und Tauschobjekten.

Die Bedeutung des Postverkehrs ging aber noch wesentlich weiter. Es war ein verzweifeltes Klammern an so etwas wie Normalität, ein Versuch, der Deformation durch das Terrorsystem im Lager für eine winzige Zeitspanne zu entkommen, indem sich der Häftling mit den vorgeschriebenen Zeilen und Wörtern in ein normales soziales Beziehungssystem versetzte, wie es außerhalb der Lagerwelt bestand. Einmal oder zweimal im Monat konnte sich ein briefeschreibender Lagerinsasse so zumindest symbolisch seiner Individualität versichern, sich als ein Mensch fühlen, der außerhalb der Lagerkategorien in einem familiären Beziehungsnetz aufgehoben war, als "Sohn", "Tochter", "Mutter", "Schwester" oder "Ehemann". Durch das Schreiben und Empfangen von Briefen wurde ein Häftling für Augenblicke wieder ein Mensch mit Name, Identität und Biographie, also jenen Qualitäten, die bei der Ankunft im Lager als erstes brutal ausgelöscht wurden. [9]

So sind die erhaltenen Briefe aus Lagern und Ghettos in ihrer äußerlichen Armseligkeit Zeugnisse von hohem symbolischen Rang, die trotz der Dürftigkeit ihrer verbalen Mitteilungen etwas über die Existenz im Lager aussagen. Mit den Zeichen des Terrorsystems versehen, den Auszügen aus der Lagerordnung in blutroter Schrift, den Zensurstempeln und oft auch mit dem Konterfei Adolf Hitlers auf der Briefmarke, strahlen sie etwas von dem Versuch aus, der fortwährenden totalen Zerstörung von Identität im Lager einen Rest an Individualität entgegenzusetzen, als Subjekt mit einer eigenen Geschichte zu überleben und sei es auch nur im Gedächtnis der Briefempfänger. Die eingangs beschriebenen individuellen Lese- und Aufbewahrungsspuren, die die einzelnen Empfänger hinterlassen haben, verleihen den Dokumenten im Sinne der Definition von Walter Benjamin jene besondere "Aura" [10] des Authentischen, mit deren Hilfe - unter anderem - Geschichte lebendig werden kann.

Anmerkungen

1. Zum unlösbaren Dilemma dieses Museumstyps gehört es, daß fast alle Objekte, die erworben werden, um dem Auftrag gerecht zu werden, Geschichte nachvollziehbar zu machen, mit dem Blut der Opfer behaftet sind. Dies betrifft keineswegs nur Dokumente aus den Lagern, sondern ebenso Kultgerät aus Deutschland und dem besetzten Europa.

2. Julien Lajournade, Le courrier dans les camps de concentration 1933-1945. Système et rôle politique, Paris 1989, S. 60.

3. Lajournade, S. 61.

4. Alle zitierten Briefe aus dem Archiv des Jüdischen Museums Rendsburg.

5. Lajournade, S. 75.

6. Gabriele Mittag, Es gibt Verdammte nur in Gurs. Literatur, Kultur und Alltag in einem südfranzösischen Internierungslager. 1940-1942, Tübingen 1996, S. 50.

7. Mittag, Gurs, S. 47.

8. Lajournade, S. 97.

9. Vgl. Wolfgang Sofsky, Die Ordnung des Terrors: Das Konzentrationslager, Frankfurt/M. 1993, S. 98ff.

10. Vgl. Walter Benjamins Aufsatz "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit", in: Walter Benjamin, Gesammelte Schriften. Werkausgabe, Frankfurt/M., Bd. I/2, S. 436ff. Benjamin bezog den Begriff der "Aura" auf das Kunstwerk. Mit den Definitionen des "Hier und Jetzt", des "Einmaliligen" und "Originalen" scheint mir der Begriff auch auf andere Objekte übertragbar. Der Originalbeitrag enthält zwei Abbildungen.


Die Autorin: Frauke Dettmer, geboren 1944, Volkskundlerin und Slavistin, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin des Jüdischen Museums in Rendsburg mit den Schwerpunkten Vermittlung, Ausstellungen, Veranstaltungen.


Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte Heft 33/34

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