Björn Marnau

"Transport nach Sachsenhausen"

Zur Aktion "Arbeitsscheu Reich" in Schleswig-Holstein (Juni 1938)

Am Mittwoch, den 22. Juni 1938, hatte die 56. Kieler Woche gerade ihren Zenit erreicht. Für den dritten Tag des segelsportlichen Ereignisses sah das Programm einen sportlichen Ruhetag vor. Dieser sollte den Teilnehmern die Möglichkeit geben, neue Kräfte für die beiden noch folgenden Wettkampftage zu schöpfen, gegebenenfalls an den Booten aufgetretene Schäden in Ruhe zu beheben und "freundschaftliche Bande zu knüpfen". Für den Abend hatte der Yachtclub von Deutschland alle Segler zu einem festlichen Ball eingeladen. [1]

Während sich die Sportler in den frühen Abendstunden beim Tanz vergnügten, verließ um 20.45 Uhr ein Häftlingstransport die Fördestadt. Sein Ziel: das bei Berlin gelegene Konzentrationslager Sachsenhausen. Wer waren diese Menschen, die an jenem Abend aus Schleswig-Holstein in das brandenburgische KZ verschleppt wurden, was war der Grund für ihre Deportation in eines der größten und berüchtigsten Konzentrationslager?

Sommer 1938: Arbeitskräfte fehlen

Im Sommer 1938 befand sich die Arbeitslosigkeit in Deutschland auf ihrem niedrigsten Stand seit 1929. Obgleich noch immer Hunderttausende ohne Beschäftigung waren, wurden in bestimmten Branchen und Regionen Arbeitskräfte gesucht. "Starke Nachfrage nach Arbeitskräften in Kiel" titelten am 15. Juni 1938 die Kieler Neuesten Nachrichten und schrieben zu dem Thema unter anderem: "Der Monat Mai brachte eine weitere Belebung des Arbeitseinsatzes. Rund 10.000 Vermittlungen wurden vorgenommen. 2.600 gemeldete offene Stellen konnten nicht besetzt werden."

Auch die aus dieser Situation gezogenen Konsequenzen nannte die Zeitung: "Zur Erreichung der Ziele des zweiten Vierjahresplanes wird der Einsatz aller Kräfte gefordert. In verschiedenen landwirtschaftlichen Bezirken des Arbeitsamts Kiel sind bereits die letzten Reserven restlos in Arbeit gebracht worden". Die "letzten Reserven": hierzu zählte das Regime auch diejenigen, denen es unterstellte, sich nach Möglichkeit jeder produktiven Tätigkeit zu entziehen - die "Asozialen", die Bettler, Landstreicher und "Arbeitsscheuen". Zwei große Festnahmeaktionen gegen Menschen, die die Nationalsozialisten unter die genannten Kategorien subsumierte, fanden im Jahre 1938 statt.

Verschärfung der Verfolgung von "Asozialen"

Nachdem das Reichspropagandaministerium wenige Monate nach der Machtübernahme im September 1933 eine reichsweite Bettlerrazzia durchgeführt hatte [2], war das Vorgehen gegen "Asoziale" in den folgenden vier Jahren weitgehend in den Händen lokaler und regionaler Körperschaften geblieben. [3] Dies änderte sich durch den am 14. Dezember 1937 von Reichsinnenminister Wilhelm Frick unterzeichneten Erlaß über die "Vorbeugende Verbrechensbekämpfung durch die Polizei". Auf seiner Grundlage sollten vor allem "Berufs- und Gewohnheitsverbrecher" und Personen, die keine oder falsche Angaben über ihre Personalien machten, in Vorbeugungshaft genommen werden, zusätzlich aber auch, "wer, ohne Berufs- oder Gewohnheitsverbrecher zu sein, durch sein asoziales Verhalten die Allgemeinheit gefährdet". [4]

Obwohl die kriminalpolizeiliche Vorbeugungshaft gegen "Asoziale" auf der Grundlage dieses Erlasses seit Dezember 1937 möglich war, ging Heinrich Himmler durch einen Erlaß vom 26. Januar 1938 zunächst mit der Gestapo gegen "Arbeitsscheue" vor. Bei dieser Verhaftungsaktion, die am 21. April begann, wurden in Kiel innerhalb von vier Tagen 44 Menschen festgenommen und zunächst vom Polizeigefängnis in das dortige Gerichtsgefängnis überführt. [5] Dann wurden die Männer, von denen zwei Drittel obdachlos waren, in die "vorbeugende Schutzhaft" verlegt: damit gehören sie sehr wahrscheinlich zu den knapp 2000 "Arbeitsscheuen", die im Rahmen dieser Aktion in das KZ Buchenwald bei Weimar verschleppt wurden. [6]

Noch vor Abschluß der Verhaftungen der Gestapo legte das Reichskriminalpolizeiamt am 4. April 1938 den Kriminalpolizeiabteilungen ausführliche Durchführungsrichtlinien zum "Grunderlaß Vorbeugende Verbrechensbekämpfung" vor. Die Gruppe der zu erfassenden "Asozialen" wird dort wie folgt beschrieben: "Als asozial gilt, wer durch gemeinschaftswidriges, wenn auch nicht verbrecherisches, Verhalten zeigt, daß er sich nicht in die Gemeinschaft einfügen will. Demnach sind z.B. asozial: a) Personen, die durch geringfügige, aber sich immer wiederholende Gesetzesübertretungen sich der in einem nationalsozialistischen Staat selbstverständlichen Ordnung nicht fügen wollen (z.B. Bettler, Landstreicher (Zigeuner), Dirnen, Trunksüchtige, mit ansteckenden Krankheiten, insbesondere Geschlechtskrankheiten, behaftete Personen, die sich den Maßnahmen der Gesundheitsbehörden entziehen); b) Personen, ohne Rücksicht auf etwaige Vorstrafen, die sich der Pflicht zur Arbeit entziehen und die Sorge für ihren Unterhalt der Allgemeinheit überlassen (z.B. Arbeitsscheue, Arbeitsverweigerer, Trunksüchtige). In erster Linie sind bei der Anwendung der polizeilichen Vorbeugungshaft Asoziale ohne festen Wohnsitz zu berücksichtigen. Politische Gesichtspunkte dürfen bei der Prüfung, ob eine Person als asozial zu bezeichnen ist, in keinem Falle Platz greifen. Dieses Gebiet bleibt nach wie vor der Geheimen Staatspolizei vorbehalten (Schutzhaft)." [7]

Die Aktion "Arbeitsscheu Reich" vom 13. bis 18. Juni 1938

Nach Erlaß dieser Richtlinien dauerte es nur noch einige Wochen, bis in großem Umfang kriminalpolizeiliche Vorbeugungshaft gegen "Asoziale" verhängt wurde. Mit Datum vom 1. Juni 1938 verschickte das Reichskriminalpolizeiamt einen von Reinhard Heydrich unterzeichneten und als "streng vertraulich" gekennzeichneten Schnellbrief an die Kriminalpolizeileitstellen. Darin bestimmte Heydrich die zu verhaftenden Personengruppen:

"Ohne Rücksicht auf die bereits vom Geheimen Staatspolizeiamt im März d. J. durchgeführte Sonderaktion gegen Asoziale sind unter schärfster Anwendung des Erlasses vom 14. Dezember 1937 in der Woche vom 13. bis 18. Juni 1938 aus dem dortigen Kriminalpolizeileitstellenbezirk mindestens 200 männliche arbeitsfähige Personen (asoziale) in polizeiliche Vorbeugungshaft zu nehmen." [8] Neben Landstreichern ohne feste Arbeit, Bettlern - auch mit festem Wohnsitz - , Zuhältern, gegen die schon einmal ein Strafverfahren gelaufen war - selbst wenn dieses mit einem Freispruch geendet hatte - und Personen, die häufig wegen Körperverletzungsdelikten und verwandten Straftaten vor Gericht gestanden hatten, sollten auch Zigeuner oder "nach Zigeunerart umherziehende Personen" berücksichtigt werden, sofern sie keiner geregelten Arbeit nachgingen oder straffällig geworden waren. Schon bei dieser Aktion ein knappes Vierteljahr vor dem Pogrom des 9. November 1938 sollten auch Juden festgenommen werden, sofern sie mit mindestens einer Gefängnisstrafe von mehr als einem Monat vorbestraft waren. Während es bei der Gestapoaktion zwei Monate zuvor offiziell in erster Linie um seßhafte Fürsorgeempfänger gegangen war - die Kieler Fälle zeigen allerdings ein anderes Bild - , zielte die "Juniaktion" der Kriminalpolizei von vornherein in hohem Maße auf wohnungslose Personen.

In den Morgenstunden des 13. Juni begannen Kriminalpolizeibeamte wie im gesamten Reich so auch in Schleswig-Holstein mit der Verhaftung von "Asozialen". Offensichtlich existieren jedoch im Norden nur noch für die Stadt Kiel Gefangenenbücher, die Auskunft über die Verhafteten jener Aktion "Arbeitsscheu Reich" geben. Um 7 Uhr morgens wurde der in Hamburg gebürtige, wohnsitzlose 25jährige Gerhard S. verhaftet. Seiner Festnahme folgten an jenem Tag 19 weitere, bis zum offiziellen Ende der Aktion am 18. Juni sollten es insgesamt 72 werden. Dreizehn der Inhaftierten wurden nach einigen Stunden, häufig schon mittags, in der Regel jedoch spätestens am Abend des Festnahmetages wieder freigelassen. Die übrigen wurden in das Kieler Gerichtsgefängnis verlegt.

Die Festgenommenen

Alle Festgenommenen waren laut Gefangenenbuch wegen "Arbeitsscheu" erfaßt worden - Zuhälter, "Zigeuner" oder wegen wiederholt begangener Körperverletzung auffällig gewordene Personen befanden sich offensichtlich nicht unter den Opfern der Aktion. Mehr als die Hälfte der Männer waren offensichtlich un- oder angelernte Arbeiter, die übrigen waren - bis auf wenige Ausnahmen - Arbeiter mit einer Ausbildung oder Handwerker. [9] Nur 20 von ihnen waren gebürtige Schleswig-Holsteiner, davon alleine sechs Kieler. Die meisten von ihnen, nämlich 59, hatten keinen festen Wohnsitz.

Während wir für die Mehrzahl der Betroffenen nur die im Gefangenenbuch notierten Angaben zur Person kennen, liegen für vier Männer Akten aus Wiedergutmachungsverfahren aus der Nachkriegszeit vor. Diese Dokumente umfassen allerdings jeweils nur wenige Seiten.

So wissen wir Näheres über zwei Männer aus Neumünster, die von der Kripo Kiel offensichtlich an ihrem Wohnort festgenommen und von dort nach Kiel transportiert worden sind - dafür spricht, daß am 16. Juni um 10 Uhr ein Dutzend Männer im Kieler Polizeigefängnis eingeliefert wurden, von denen sieben aus der Textilstadt Neumünster stammten.

Einer von ihnen war der schon 57jährige Schuhmacher Friedrich M., der bis zum September 1932 bei der Bahnmeisterei in Neumünster beschäftigt gewesen war. [10] Auf dem Höhepunkt der Weimarer Wirtschaftskrise wurde er dann "wegen Mangel an Tagewerken und wegen Arbeitsmangel" gekündigt. Es kann nur vermutet werden, daß der 52jährige in den folgenden Jahren aufgrund seines Alters und seiner Konstitution keine Anstellung mehr gefunden hat. Er selber vermutete Mitte der 1950er Jahre, "er sei auf Veranlassung der Partei verhaftet worden, weil er keinen Posten annehmen wollte und bei Haussammlungen nicht gespendet habe."

Das Landesentschädigungsamt hingegen urteilte im April 1956, daß die Verhaftung des M. "auf einem bedauerlichen Mißgriff der damaligen Polizeibehörde, deren Opfer der Antragsteller wurde", beruht habe. "Da der Antragsteller körperlich nicht voll leistungsfähig war, entstand damals der Eindruck, daß er sich vor der Arbeit drücke", schrieb das Landesentschädigungsamt. Der Fall des Friedrich M. unterstützt die Vermutung des Historikers Ayaß, daß viele Verhaftete nicht arbeitsfähig waren, obgleich nur Arbeitsfähige hatten verhaftet werden sollen. [11]

Der 32jährige Kraftfahrer Hans H. aus Neumünster, der von 1933 bis 1935 Mitglied der NSDAP gewesen war, bevor er aufgrund "abfällige[r] Redensarten" über die Partei ausgeschlossen wurde, war zum Zeitpunkt seiner Verhaftung noch nicht einmal arbeitslos, sondern als Zivilkraftfahrer beim Arbeitsdienst in Neumünster tätig. [12] Dennoch hatte ihn die Kripo Kiel "als Asoziale[n] und Arbeitsscheue[n]" festgenommen, "weil er in den letzten Jahren wiederholt von Arbeitgebern wegen öfteren Fehlens und Faulheit entlassen" worden war. H. hatte nach Auskunft des Landgerichts Kiel, vor dem die Scheidung des H. von seiner Frau während seiner KZ-Haft 1939 verhandelt wurde, angeblich selbst "zugegeben […], daß er in mehreren Fällen die öffentliche Unterstützung durch sein Verhalten verschuldet hätte".

In Kiel wurde am späten Vormittag des 17. Juni der gelernte Schmied August W. inhaftiert. Der 33jährige, der keinen festen Wohnsitz hatte, arbeitete "unständig am Hafen" der Fördestadt. Auslöser für seine Festnahme als "Arbeitsscheuer" war offensichtlich seine Wohnsitzlosigkeit - so will es zumindest das schleswig-holsteinische Entschädigungsamt 31 Jahre später wissen. Einziger nachgewiesener Jude unter den im Juni Festgenommenen war der 52jährige Kieler Kaufmann W. H., der offiziell aber auch als "arbeitsscheu" bezeichnet wurde.

Die Zahlen der Verhafteten übertrafen reichsweit bei weitem die Vorgaben von 200 Festnahmen pro Leitstellenbezirk, wie sie Heydrich gefordert hatte. Während in den 14 Leitstellenbezirken der Kriminalpolizei bei gerade ausreichender Befolgung weniger als 3.000 Menschen hätten verhaftet werden müssen, gab der Amtschef der Dienststelle Vierjahresplan im persönlichen Stab des Reichsführers-SS, SS-Oberführer Greifelt, in einem Vortrag vor SS-Führern die Gesamtzahl der Verhafteten mit "weit über 10.000" an. Die Zahl erscheine, so Ayaß, durchaus glaubwürdig bei Berücksichtigung der vorliegenden Teilzahlen. [13]

Im Kriminalpolizeileitstellenbezirk Hamburg, der die Kriminalpolizeistellen Hamburg, Kiel und Flensburg umfaßte, verhaftete die Polizei 700 Personen, wovon 300 auf das Gebiet der Hansestadt Hamburg entfielen. [14] Von den 400 Personen, die rechnerisch für die Kriminalpolizeistellen Kiel und Flensburg verbleiben, führt das Kieler Gefangenenbuch 59 auf.

Deportation in die Konzentrationslager

Vermutlich sind alle Festgenommenen am Abend des 22. Juni mit einem Transport nach Sachsenhausen deportiert worden. In 15 Fällen vermerkt das Buch explizit den "Transport nach Sachsenhausen", doch auch die vier Männer, deren Entschädigungsakten vorliegen, waren definitiv in dem Brandenburger Konzentrationslager, obgleich ihr Gefangenenbucheintrag hierzu keine Angaben macht.

Mit den Razzien des Jahres 1938 nahm die KZ-Unterbringung von "Asozialen" Massenumfang an. Innerhalb weniger Wochen kamen in großen Schüben mehrere tausend Verhaftete einer bis dahin nicht bekannten Häftlingskategorie in die Konzentrationslager. Die Lager Buchenwald, Dachau und Sachsenhausen stießen dadurch an ihre bisherige Kapazitätsgrenze. Die bis dahin dominierenden politischen Häftlinge wurden nun zu einer Minderheit. So wurden ins KZ Sachsenhausen, wo zum Jahresbeginn 1938 die Häftlingszahl noch bei 2.500 gelegen hatte, im Sommer 1938 über 6.000 sog. "Asoziale" verschleppt. [15]

Innerhalb der von der SS bewußt geförderten Häftlingshierarchie rangierten die "Asozialen" ganz unten - allerdings wohl noch vor den Juden und Homosexuellen. [16] Als Zweck der KZ-Inhaftierung wurde August W. erklärt, "er müsse an einer Umschulung für etwa 6 Wochen teilnehmen, um den Nationalsozialismus kennenzulernen". Ungeachtet der inzwischen hinreichend bekannten Zustände in den KZ im allgemeinen und in Sachsenhausen im besonderen gab Friedrich M. an, während seiner Haftzeit nicht mißhandelt worden zu sein. Nichtsdestotrotz erlitt er während seiner Inhaftierung einen schweren Gesundheitsschaden: Eine im Dezember 1938 bei der Arbeit im Lager zugezogene Wunde entzündete sich und hatte eine Blutvergiftung zur Folge, die schließlich zu einer Verkrüppelung seiner linken Hand führte.

Nachdem die Kieler Polizeigefangenen zunächst nach Sachsenhausen verbracht worden waren, wurden vier Männer, die zwei Wochen nach offiziellem Abschluß der Aktion "Arbeitsscheu Reich" am 1. August in Kiel als "Arbeitsscheue" festgenommen worden waren, nach Buchenwald verschleppt. In diesem bei Weimar gelegenen KZ wurden im August 1938 von den knapp 8.000 Häftlingen etwa 4.600 als "Arbeitsscheue" geführt. Ihre Zahl sank aber in den folgenden Monaten durch Todesfälle, Verlegungen in andere Lager und durch Entlassungen kontinuierlich. Mithäftlinge berichteten, daß die Haftbedingungen der "Arbeitsscheuen" noch übler waren als die anderer Häftlinge. [17]

Die ersten Häftlinge der "Juniaktion" wurden im Zuge einer Amnestie anläßlich von Hitlers 50. Geburtstag am 20. April 1939 entlassen. Zu den Amnestierten gehörte Friedrich M. Nach eineinhalb Jahren Haft wurde am 16. Dezember 1939 auch Hans H. aus Sachsenhausen entlassen. Ebenfalls im Laufe des Jahres 1939 erhielt der jüdische Kaufmann H. seine Freiheit wieder. H. heiratete kurz darauf seine Cousine, mit der er noch im selben Jahr nach Shanghai emigrierte. Als im Juni 1940 nach zweijähriger Haft für die Verhafteten der "Juniaktion" der erste reguläre Haftprüfungstermin anstand, fand August W. keine Berücksichtigung. W., der interessanterweise nur ein halbes Jahr lang den braunen Winkel der "Asozialen" getragen und danach den roten Winkel der "Politischen" erhalten hatte, wurde erst nach zweieinhalbjähriger KZ-Haft Ende 1940 entlassen.

Bekannt ist auch das Entlassungsdatum für den 42jährigen Kieler Alfred F., der im selben Jahr eine Woche vor Weihnachten das Brandenburger KZ verlassen durfte. [18]

Keine Wiedergutmachung

Wer als "Asozialer" in ein Konzentrationslager verschleppt worden war, erhielt nach 1945 grundsätzlich keine Entschädigung. [19] Entsprechend urteilte das Landesverwaltungsgericht Schleswig im Herbst 1951, daß eine Anerkennung als Opfer des Nationalsozialismus ausgeschlossen sei, wenn die Überführung in ein Konzentrationslager "wegen Arbeitsscheu auf Grund der sog. 'Asoaktion'" erfolgt sei. [20]

Die Erfahrungen von Ayaß, daß seines Wissens alle Anträge, die von als "Asozialen" verfolgten Menschen gestellt wurden, bis in die 1980er Jahre abgelehnt worden sind [21], finden ihre Bestätigung in den wenigen bekannten schleswig-holsteinischen Fällen. "Dem Entschädigungsantrag konnte nicht entsprochen werden", urteilte im April 1954 das Landesentschädigungsamt Schleswig-Holstein über den Antrag des Schuhmachers Friedrich M. auf Anerkennung als politisch Verfolgter und fuhr fort: "Sämtliche Entschädigungsansprüche setzen voraus, daß der Antragsteller wegen einer gegen den Nationalsozialismus gerichteten politischen Überzeugung verfolgt worden ist und hierdurch Schaden erlitten hat. Der Antragsteller muß also von der verfolgenden Stelle als politischer Gegner erkannt worden sein. Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor, denn der Antragsteller hat nie einer politischen Partei angehört und sich auch sonst politisch passiv verhalten. Wie die Ermittlungen ergeben haben, geschah die Verhaftung des Antragstellers im Rahmen der Aktion gegen arbeitsscheue Elemente. Die Verhaftung des Antragstellers beruhte auf einem bedauerlichen Mißgriff der damaligen Polizeibehörde, deren Opfer der Antragsteller wurde. Da der Antragsteller körperlich nicht voll leistungsfähig war, entstand damals der Eindruck, daß er sich vor der Arbeit drücke. Der Antragsteller ist damit also ohne eigenes Verschulden irrtümlich als asozial angesehen und verhaftet worden. Allein aus diesen Gründen ist der Antragsteller auch schon nach seiner Haftentlassung mehrere Jahre vom Wohlfahrtsamt betreut worden.

Für eine irrtümliche politische Verfolgung gewährt das BEG jedoch nach gefestigter Rechtsprechung (zuletzt noch Urteil des BGH vom 7.3.56 - IV ZR 304/55 -) keinen Entschädigungsanspruch." [22]

Doch auch in Fällen, in denen die Festnahme nicht "irrtümlich" erfolgt war, wurde nicht entschädigt. "[…] es steht fest, daß er nicht aus den Voraussetzungen des § 1 BEG verfolgt und seiner Freiheit beraubt worden ist, sondern aus Gründen, die in seiner Person und seinem Verhalten liegen," befand das Entschädigungsamt im Falle von Hans H. [23]

Auch der Sonderhilfs-Ausschuß der Stadt Kiel lehnte eine Unterstützung der Betroffenen ab. Der 48jährige Heizer Friedrich A., der zunächst - so seine eigenen Angaben - acht Monate in Sachsenhausen inhaftiert war und während des Krieges von 1943 bis 1945 im Konzentrationslager Flossenbürg festgehalten worden war, wurde als "für eine Betreuung nicht in Frage" kommend eingestuft. Eine Stützung mag diese Entscheidung durch den Umstand erfahren haben, daß A. zwei Tage zuvor "wegen Erpressung und schweren Diebstahls festgenommen" worden war und nun im Kieler Polizeigefängnis einsaß. [24] Eine Anerkennung als Hilfsberechtigter hätte er jedoch vor dem Hintergrund des damaligen Entschädigungsprozederes auch ohne seine mutmaßliche Delinquenz nicht erfahren.

Ohne Entschädigung blieb im übrigen ebenfalls der Kieler Jude W. H.: "Wenn auch anerkannt wird, daß H. schwerste Schädigungen durch den Nat[ional] Soz[ialismus] erlitten hat, so bestehen z. Zt. doch keine gesetzlichen Grundlagen, die irgendwelche Wiedergutmachungsleistungen an H. rechtfertigen können. Das M[inisterium] d[es] I[nneren] bedauert es ausserordentlich, diesen abschlägigen Bescheid erteilen zu müssen." [25]

Anmerkungen

1. Vgl. Kieler Woche 1938, in: Kieler Neueste Nachrichten vom 18./19.06.1938.

2. Vgl. (mit regionalen Beispielen) Björn Marnau, Von "Speckjägern", "Tippelbrüdern" und "Rittern der Landstraße". Die Verfolgung von Bettlern und Landstreichern im Nationalsozialismus. In: Steinburger Jahrbuch 1996, Itzehoe 1995, S. 28-48.

3. Vgl. Wolfgang Ayaß, "Asoziale" im Nationalsozialismus. Stuttgart 1995, S. 138.

4. Reichssicherheitshauptamt - Amt V - (Hrsg.), Vorbeugende Verbrechensbekämpfung - Erlaßsammlung. Bearbeitet von SS-Hauptsturmführer Kriminalrat Richrath im Reichssicherheitshauptamt, o. O., o. J., (Berlin 1943) s. 42, zit. n. Ayaß (1995), S. 139.

5. Vgl. LAS Abt. 623, Nr. 10 (Gefangenenbuch A, Kiel).

6. Vgl. Ayaß (1995), S. 143.

7. Erlaßsammlung Vorbeugende Verbrechensbekämpfung, S. 71, zit. n. Ayaß (1995), S. 147f.

8. Ebenda, S. 81, zit. n. Ayaß (1995), S. 149f.

9. Neben 39 Arbeitern waren unter den Festgenommenen Bergmänner (2), ein Buchbinder, ein Crogmann, Dreher (2), ein Gärtner, Heizer (4), Kraftwagenfahrer (2), ein Kremmer, ein Lehrling, ein Maler, Maurer (2), ein Mechaniker, Melker (2), ein Sattler, ein Schleifer, Schlosser (2), Schmiede (2), ein Schneider, Schuhmacher (2) und Tischler (3).

10. Vgl. LAS Abt. 761, Nr. 13322.

11. Vgl. Ayaß (1995), S. 163.

12. Vgl. LAS Abt. 761, Nr. 5266.

13. Vgl. Ayaß (1995), S. 156.

14. Vgl. Ayaß (1995), S. 155.

15. Vgl. Ayaß (1995), S. 165f.

16. Vgl. Ayaß (1995), S. 169.

17. Vgl. Ayaß (1995), S. 166.

18. Vgl. StA Kiel Nr. 49090.

19. Vgl. Ayaß (1995), S. 214.

20. Urt. LVG Schleswig v. 14.08.1951 = St. L. II 323/50, zit. n. Hartmann, Das schleswig-holsteinische Wiedergutmachungsrecht, S. 59, in: Schleswig-Holsteinische Anzeigen, April 1952, S. 57-60.

21. Vgl. Ayaß (1995), S. 212.

22. LAS Abt. 761, Nr. 13322.

23. LAS Abt. 761, Nr. 5266.

24. StA Kiel Nr. 49080.

25. StA Kiel Nr. 49229.


Der Autor: Björn Marnau, geboren 1966, ist Studienreferendar und arbeitet über gesellschaftliche Randgruppen im Nationalsozialismus (Homosexuelle, "Asoziale", Sinti und Roma) sowie über Antimilitarismus und Pazifismus in Kaiserreich und Weimarer Republik.


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