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Thomas Schulze:

Das Gedächtnis der Stadt

Vergangenheitspolitik, Politik mit der Erinnerung, Gedächtnisorte: Das sind nur einige der Schlagworte, mit denen die Diskussion um den Umgang des Nachkriegsdeutschlands mit seiner nationalsozialistischen Vergangenheit geführt wird. Gedächtnisgeschichte hat Konjunktur, auch auf dem Buchmarkt. Der Hamburger Politologe Peter Reichel legte als Herausgeber einen Sammelband zur hamburgischen Variante des Themas vor.

Hervorgegangen aus einer Ringvorlesung der Universität Hamburg, befassen sich die Beiträge der Autorinnen und Autoren aus unterschiedlichen Perspektiven mit Einzelaspekten einer nach wie vor nicht vorhandenen Sozial- oder politischen Kulturgeschichte öffentlichen Erinnerns. Herausgekommen ist ein ansprechend aufgemachter Band mit vielen interessanten Abbildungen, die leider in Größe und Druckqualität etwas abfallen.

Zwei Aufsätze liefern den zeitgeschichtlichen Rahmen der Modernisierung im Wiederaufbau: Hermann Hipp beleuchtet Denkmalpflege und Stadtplanung, Axel Schildt skizziert Aspekte des Alltags und Lebensstils der 50er Jahre. In Hamburg habe es eine "Kontinuität städtebaulicher Leitlinien über den Zweiten Weltkrieg hinweg in die Nachkriegszeit" gegeben, so Hipps These. Die Stadt der 50er folgte einem Leitbild, in dem die Spuren des Krieges, des Dritten Reichs unsichtbar blieben. Diese Lücke amtlicher Erinnerung ist bis heute kaum geschlossen worden. Hipp charakterisiert den Wiederaufbau Hamburgs als "ästhetische Amnesie": "Das [...] Aufräumen unter den Überbleibseln des Vorkriegs-Hamburg galt am Ende aber doch nicht dem Dritten Reich und dem Zweiten Weltkrieg, sondern dem Phantom der Industriezivi-


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lisation und dem Moloch Großstadt. Dies Ziel hatten Stadtplanung und Denkmalpflege auch im Dritten Reich verfolgt."

Das alltagsgeschichtliche Pendant zum offiziellen Gedächtnisverlust liefert Axel Schildt: in einer Skizze des sozialkulturellen Profils Hamburgs vergleicht er die Situation in den Jahren 1950 und 1960. Die Entpolitisierung des Alltags bringt Schildt am Schluß auf die pointierte These, "daß die berserkerhafte Konzentration auf den Wiederaufbau, auf die Rückerlangung von Normalität und darüber hinaus auf das Erreichen noch ungewohnten Wohlstands, der mit der rastlosen Arbeitsamkeit und Sparsamkeit verbundene Rückzug in die private Häuslichkeit und der ausgeprägte Wunsch nach Ruhe [...] dem 'Gedächtnis der Stadt' nicht günstig waren."

Die anderen Beiträge nehmen sich überwiegend einzelner Gedächtnis-Geschichten an, in denen sich jeweils der Streit um die Interpretation der Vergangenheit widerspiegelt. Wolfgang Grünberg zeichnet die Geschichte der St. Nikolai-Kirche nach, die 1842 und 1943 zur Ruine wurde. Sie steht noch heute als Beispiel für die Unentschlossenheit und Unwilligkeit der Stadt, eine Gedächtnis-Kirche als Mahnmal in der Innenstadt zu erhalten. Ein Beitrag von Detlef Garbe widmet sich der Geschichte des KZ-Neuengamme und dem komplizierten Weg zu einer Gedenkstätte.

Dietrich Kuhlbrodt wirft anhand des Nachkriegsboykotts der Filme des NS-Filmemachers Veit Harlan ("Jud Süß") nicht nur die Frage nach der Entnazifizierung des NS-Films auf, sondern macht das strittige Verhältnis von Wirtschafts- und Meinungsfreiheit der frühen Bundesrepublik deutlich. Den langwierigen Umgang der Universität mit ihrer eigenen Geschichte im Nationalsozialismus hat Eckart Krause erforscht. Beate Meyer rückt mit der "Werkstatt der Erinnerung" die Lebensgeschichten und Sichtweisen von NS-Opfern in den Mittelpunkt.

Daß die denkmalpolitischen Initiativen für die verfolgten und ermordeten Juden kaum nennenswerte öffentliche Debatten ausgelöst haben, ist das Ergebnis eines Artikels von Ina Lorenz. Internationales Aufsehen erregte der Streit um den Jüdischen Friedhof in Ottensen. In einem zweiten Beitrag erhellt Lorenz dessen Geschichte von 1942 bis 1992. Die gefundene, scheinbar pragmatische Lösung kritisiert Lorenz als "erneute Ausgliederung dieser [jüdischen, d.V.] Minderheit". Der Hamburger Senat habe den Juden die Diskussion um die Erinnerung und die Problemlösung überlassen, eine Haltung zur eigenen Erinnerung ließ sich die Stadt nicht abringen.

Zum Stein des Anstoßes gerät immer wieder der Kriegsklotz am Dammtor. Hans Walden setzt sich mit dem "doppelten Gegendenkmal" auseinander. Der Autor führt den Beweis, daß das 76er nicht dem Totengedenken, sondern der NS-Propaganda gewidmet ist, kritisiert aber auch Hrdlickas Werk, da sich dies auf Opfer alliierter Angriffe beschränkt. Aufschlußreich sind seine Hinweise und Verknüpfungen mit anderen Bauwerken der NS-Zeit wie Bunker oder Kasernen, die nur selten in das öffentliche Stadtgedächtnis treten.

Den Abschluß bildet ein Forschungsüberblick Arnold Sywotteks. Er fordert eine alltagsgeschichtliche Gesamtdarstellung des Dritten Reichs in Hamburg,


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nicht ohne die Relevanz aller Forschungsbemühungen auf die Gegenwart zu beziehen, indem er fragt: "Was bedeutet es den Zeitgenossen von heute zu erfahren, daß Hitler in Hamburg, entgegen früheren Annahmen, in weiten Kreisen der Bevölkerung ein gern gesehener Gast war?"

Wer nach einem roten Faden oder einer allumfassenden These des Bandes sucht, tut dies vergeblich: Dies entspricht dem Forschungsstand, und realiter läßt sich die Geschichte dieser Geschichtspolitik kaum auf eine Formel bringen. Für Reichel erscheint Hamburg erinnerungspolitisch als "widerspruchsvoller Normalfall". Die Einschätzung, "das Gedächtnis der Stadt" sei ein "komplexes Gefüge von Zeitspuren und Zeitbezügen", bleibt allerdings arg beliebig. Ein wenig mehr Interpretationsfreude an dieser Stelle hätte dem Band und einer durch die vorgelegten aufschlußreichen Einzelstudien angeregten Diskussion über das Thema gut getan.

Peter Reichel (Hrsg.): Das Gedächtnis der Stadt. Hamburg im Umgang mit seiner nationalsozialistischen Vergangenheit. Hamburg: Dölling und Galitz Verlag 1997. (Schriftenreihe der Hamburgischen Kulturstiftung; Bd. 6). 253 S. mit Abb.


Veröffentlicht in den Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte (Kiel) Heft 32 (Dezember 1997) S. 89-91.


Thomas Schulze (geboren 1966) ist Politologe und hat sich besonders mit der Problematik von NS-Denkmälern befaßt. Zu einem Arbeitsbereich zählen historische Stadtrundgänge in Hamburg sowie die Betreuung von Ausstellungen für das Museum der Arbeit in Hamburg.


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