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Christina Gallo:

Ein Frauenleben zwischen Hamburg und Holstein

Die "Eimsbüttler Lebensläufe" sind ein Projekt des Schul- und Kulturausschusses der Bezirksversammlung Eimsbüttel. Ziel der Buchreihe ist es, anhand von Aufzeichnungen und mündlichen Berichten älterer Einwohner einen Eindruck von der Vergangenheit dieses Hamburger Stadtteils zu vermitteln. Die Herausgeber ordnen dabei jeweils die subjektiven Darstellungen der autobiographischen Passagen in den historischen Kontext ein, um so die Korrelation von privatem Leben und öffentlichem Geschehen zu verdeutlichen.

Im vorliegenden vierten Band der Reihe berichtet Martha Hückstaedt (1910-1993) aus ihrem Leben. Zunächst sollte die Vielzahl von Notizen nur als Erinnerung für sie selbst und ihren Sohn dienen, später aber entwickelte sich die Idee, die persönliche Lebensgeschichte einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Daher wurden die gesammelten Manuskripte mit Studentinnen und Studenten von der Fachhochschule und Universität Hamburg für die Publikation aufbereitet.

Die Schilderungen im Buch umfassen die Zeit bis 1957. Die Eimsbüttlerin erzählt nicht nur ausführlich von ihrem familiären Umfeld, sondern auch von ihren Erfahrungen mit der Liebe (drei Ehen), dem Tod (ein Ehemann ist gefallen) und der Einsamkeit. Daneben werden von der Autorin gesellschaftliche Rahmenbedingungen angesprochen, die Konsequenzen für das eigene Leben hatten. Sie deutet ihre Anpassung im Nationalsozialismus an (Eintritt in die NS-Frauenschaft), und beschreibt in bewegenden Worten ihre Auseinandersetzung mit dem Elend des Krieges, der Evakuierung nach Holstein, mit eigener Arbeitslosigkeit und der schließlichen Rückkehr nach Hamburg.

Ganz ausgezeichnet ist das gut fünfzig Seiten umfassende Wörterbuch, das sich den Aufzeichnungen Martha Hückstaedts anschließt: Viele der im Buch verwendeten Begriffe wie "Erbhofgesetz der Nazis", "Lastenausgleichsgesetz" und "Währungsreform" werden


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hier kompetent und auch für junge Leser verständlich erklärt. Darüber hinaus wird über spannende Details aus der Geschichte Hamburgs im frühen 20. Jahrhundert informiert. Besondere Anerkennung verdient auch die Auswahl aktueller Veröffentlichungen am Schluß des Buches, die hilfreiche Orientierung für weitere Lektüre zum Thema Stadtteilgeschichte bietet.

Ein Verbesserungsvorschlag, der die Eindringlichkeit der Erinnerungen noch erhöhen könnte, betrifft die Prologe der Herausgeber zu den jeweiligen Kapiteln. Es ist sicherlich als ein lobenswertes Konzept zu betrachten, eine Biographie vor dem Hintergrund von hamburgischer und deutscher Vergangenheit darzustellen, um so die enge Verflochtenheit von individueller Lebensgeschichte und zeithistorischen Ereignissen aufzuzeigen. Die kommentierende Einordnung sollte jedoch nicht mit didaktisch gutgemeinter, aber zeitweise übertrieben erscheinender Kritik an der Autorin einhergehen. Dies könnten Leser als störende Bevormundung empfinden, die den guten Gesamteindruck des Buches beeinträchtigt.

Als Beispiel für dieses Verfahren mag die Passage gelten, mit der Martha Hückstaedts Notizen über ihr Leben im Dritten Reich eingeleitet werden: Bei der nachträglichen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, so heißt es dort, mangele es an "Deutlichkeit und Konsequenz", denn "Gefühle von Scham und Schuld werden nicht thematisiert". Diese These läßt die Herausgeber zu folgendem Schluß kommen: "So bleibt die Auseinandersetzung oberflächlich. Eine tiefergehende Beschäftigung mit dem Schrecklichen findet nicht statt." (S. 61). Die Tatsache, daß gerade diese Auslassung deutlich auf die Existenz von Verdrängungsmechanismen hindeutet, wird nicht angesprochen.

Weitere Probleme ergeben sich offenbar vor allem aus dem Spannungsverhältnis zwischen der Intention der Autorin und dem Erkentnisinteresse des auswertenden Kollektivs: Die Beschreibung persönlicher Lebenserinnerungen vor dem Hintergrund der Zeitgeschichte erfordert nicht zwangsweise die "Reflexion über die Ursachen des Krieges", deren Fehlen von den Herausgebern bemängelt wird (S. 66). Die Erwartung von Stellungnahmen, die vermeintlich in Memoiren Erwähnung finden müssen, schränkt die Perspektive so von vornherein bedeutend ein.

Wenn heutige "wissenschaftliche" Maßstäbe und Fragestellungen an die Tagebuchnotizen herangetragen werden, besteht die Gefahr einer Überinterpretation von (unterlassenen) Äußerungen, da die Quelle hinsichtlich ihrer Reichweite und ihres Aussagewertes überfordert wird: Die Autobiographie der Martha Hückstaedt will oder kann zu gewissen Vorgängen nichts berichten. Das Einlassen auf ein Projekt, das sich dem Anspruch hoher Authentizität verpflichtet fühlt, sollte auch die Distanzierung von vorgefaßten Meinungen und die Zurücknahme eigener Bewertung bedeuten.

Diesen Forderungen werden dankenswerterweise die vielen direkt zitierten Abschnitte gerecht, in dem die Notizen Marthas unkommentiert wiedergegeben werden. Der Faszination dieser Erfahrungen vermag sich der Rezipient kaum zu entziehen. Von großer emotionaler Wirkung sind etwa Martha Hückstaedts erschütternden Berichte vom Bombenkrieg; durch die Verwendung der einfa-


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chen Sprache im Tagebuch fühlt sich der Leser in die Rolle eines Zuhörers versetzt, der "Geschichte von unten" aus erster Hand erfährt. Diese Eigenheit macht das Buch zu einer sehr persönlichen, beeindruckenden Lektüre.

Nicht zuletzt das ansprechende Layout und die interessante drucktechnische Gestaltung mit dem Abdruck von Tagebuchseiten im Einband machen das Werk auch rein äußerlich zu etwas Besonderem. Es enthält sehr viele Abbildungen, größtenteils handelt es sich dabei um Photographien aus Marthas Privatbesitz.

Sieht man von dem oben angesprochenen Einwand ab, so ist die Biographie ein bemerkenswertes Zeugnis norddeutscher Historie: Ein realer Lebenslauf, der exemplarisch für viele der (Groß-)Elterngeneration stehen könnte, kann den Lesern durch die Möglichkeit zur Identifikation glaubwürdig Aspekte von jüngster Geschichte auf regionaler Ebene nahebringen.

Hückstaedt, Martha: Martha H.: ein Frauenleben zwischen Hamburg und Holstein. Hrg. und bearbeitet von Rita Bake und Jens Michelsen. Mit einem Lexikon zu norddeutschen Lebenswelten im 20. Jahrhundert. Hamburg: Dölling und Galitz Verlag 1996 (= Eimsbüttler Lebensläufe; Band 4). 168 S.


Veröffentlicht in den Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte (Kiel) Heft 32 (Dezember 1997) S. 87-89.


Christina Gallo, Geschichtsstudium an der Universität Hamburg mit den Schwerpunkten Antisemitismus, Nationalismus und Ästhetisierung / Inszenierung von Politik. Im Rahmen ihrer Tätigkeit für den Arbeitskreis Alternative Stadtrundfahrten Beschäftigung mit dem NS in Hamburg.


Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte Heft 32

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