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Gerhard Hoch

Jagd auf sowjetische Kriegsgefangene

Englisch-deutsche Einsatzgruppe in Hartenholm, Mai 1945

Im Keller der Vergessenheit warten noch manche Ereignisse darauf, in das Licht der Zeit- und Heimatgeschichte gehoben zu werden. Dazu gehört auch das im Titel dieses Aufsatzes angedeutete Vorkommnis. Die nähere Untersuchung der Vorgänge kann ein Baustein zur Rekonstruktion und Vervollständigung unseres Bildes vom Kriegsende 1945 sein.

1. Die Ereignisse nach den Berichten von Zeitzeugen

Wichtige Mitteilungen erhielt ich von Harry Weller, vormals Kapitän der "Wilhelm Gustloff", einem Passagierschiff, das - beladen mit Flüchtlingen aus Ostpreußen - von einem sowjetischen U-Boot torpediert wurde und unterging. Weller wurde am 1. November 1945 von der britischen Besatzungsmacht in Hartenholm als Gemeindedirektor eingesetzt. Er war selber zum Zeitpunkt der Ereignisse noch nicht am Ort. Seine amtliche Stellung sowie sein besonders gutes Verhältnis zur Bevölkerung des Dorfes verschafften ihm genaue Kenntnisse der Vorgänge auch vor seiner Ankunft. Einige Zeitzeugen leben seit langem nicht mehr in Hartenholm. Sie und andere müssen ungenannt bleiben.

Harry Weller schwärmt über sein Dorf: "Begünstigt durch die herrliche Lage am Südrand des Segeberger Forstes und die weiträumige Anlage des Dorfes konnte Hartenholm eine Entwicklung nehmen, die zu den anerkannt schönsten Dörfern des Landes führte [!]." [1] Dreimal wurde Hartenholm zum "Schönsten Dorf" des Kreises Segeberg gekürt.

Während des Krieges befand sich in Hartenholm ein Arbeitslager, das nach offiziellen Angaben der Gemeinde mit durchschnittlich 90 Personen belegt war. Zu den Insassen gehörten sowjetische Kriegsgefangene sowie polnische und französische Zwangsarbeiter. [2] Zeitzeugen erinnern sich auch an belgische Kriegsgefangene. Sie alle waren in zwei festen Häusern der Mühle und Sägerei Tode untergebracht (heute Altersheim). Viele arbeiteten bei örtlichen Bauern. Die sowjetischen Kriegsgefangenen waren überwiegend zu Forstarbeiten eingesetzt und darüber hinaus der ortsansässigen Firma Gustav Hartmann und Heinrich Bock zum Ausbau der Straße Hartenholm - Heidmühlen zugewiesen. Ihr Transport erfolgte mit Lastwagen. Sie wurden von bewaffneten Posten beaufsichtigt.

Der damals 13jährige Zeuge S. schildert die Stimmung zur Zeit der Kapitulation: "Tagelang waren deutsche Truppeneinheiten durch den Ort gezogen, um den Engländern nach Norden auszuweichen. Ringsum hatten sie Waffen und Ausrüstungsgegenstände weggeworfen. Nach Durchzug der letzten Einheit war plötzlich eine 'furchtbare Stille' eingetreten." Als "furchtbar" wurde diese Stille wohl empfunden, weil sie nach Wochen hektischer mili-


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[Abb. 1: Die Unterkunft der Kriegsgefangenen in Hartenholm (Aufnahme 1997)]

tärischer Bewegungen und Durchzüge von Truppenverbänden und vor allem nach der alliierten Tieffliegertätigkeit so plötzlich über die Menschen kam, daß sie ihnen wie eine "Ruhe vor dem Sturm", vor einer sehr ungewissen unmittelbaren Zukunft erscheinen konnte. Wahrscheinlich spielte auch die Angst vor Racheaktionen seitens der Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter dabei eine Rolle. Während der Befragung älterer Einwohner wurde fast immer ohne besondere Veranlassung und sehr emotional auf die sehr gute Behandlung jener Ausländer im Dorf verwiesen, wobei dann als Indikator für diese Behauptung die damals streng verbotene Tischgemeinschaft mit den Ausländern genannt wurde - ein in dieser Beziehung besonders beliebtes Stereotyp.

Am Morgen des 8. Mai 1945 verließ eine Gruppe Ausländer ihr ziemlich weit außerhalb des Dorfes gelegenes Quartier zu einem Marsch in Richtung Dorfmitte. Einige von ihnen sammelten am Rande der von Struvenhütten kommenden Straße Schußwaffen auf und nahmen sie mit. Bei dieser Gruppe scheint es sich ausschließlich um sowjetische Kriegsgefangene gehandelt zu haben. Franzosen und Belgier hatten, wie anderswo, so auch hier, anscheinend kein Interesse an einem demonstrativen Auftreten, da sie mit einer baldigen problemlosen Heimkehr rechnen konnten. Zwischen den sowjetischen und polnischen Lagerinsassen soll es um diese Zeit zu Auseinandersetzungen gekommen sein, die eine gemeinsame Aktion unwahrscheinlich machen.

Möglicherweise waren die Zwangsarbeiter und Kriegsgefangenen in Hartenholm in den Besitz eines alliierten Flugblattes gelangt, mit denen vor Beendigung der Kriegshandlungen die in den Lagern festgehaltenen Ausländer aufgefordert wurden, kleine nationale Gruppen zu bilden und für diese jeweils einen Anführer zu wählen. Auf diesem Wege hofften die Alliierten, Ausschreitungen seitens der Ausländer


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[Abb. 2.: Der Schauplatz des Geschehens bei Hartenholm]

zu verhindern. Diese Erwartung hat sich anscheinend in Hartenholm bestätigt. [3]

Über den Zweck dieses Marsches lassen sich nur Vermutungen anstellen. Im Dorf war man sich ohne Zweifel sehr wohl der Tatsache bewußt, daß die sowjetischen Kriegsgefangenen im Vergleich zu den Angehörigen anderer Nationen eine sehr viel schlechtere Behandlung erfahren hatten. Es hieß daher: "Sie wollten angeblich mit bestimmten Leuten im Ort abrechnen, besonders mit dem Firmenleiter Bock. Allgemein herrschte in der Bevölkerung Angst, um so mehr, als keine deutschen Soldaten mehr zu ihrem Schutz anwesend waren" - so der Zeitzeuge S.

Während des Marsches sollen keine Gewaltakte vorgekommen sein. Wo der gewaltfreie Charakter des Marsches nach 50 Jahren bestritten wird, ist keine Angabe darüber zu erhalten, auf welche Weise sich die behauptete Gewalt geäußert habe. So bleibt die Annahme, daß sich die damals herrschende Angst im nachhinein durch eine erfundene Gewalt als wohlbegründet erweisen mußte.

Die Kolonne marschierte zunächst bis zur Gastwirtschaft Tode. Unklar bleibt, wohin ihr Weg von dort aus weiterführte: nordostwärts in den Segeberger Forst oder sogleich ostwärts in das


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[Abb. 3: Gastwirtschaft Tode in Hartenholm (Aufnahme 1997)]

Gelände hinter dem Kakelholz. Übereinstimmend aber wird berichtet, daß wenig später vom Süden her aus Richtung Struvenhütten ein Konvoi - bestehend aus einigen englischen Jeeps und vier oder fünf Lastwagen, besetzt mit britischen und deutschen Soldaten - erschien. Die Fahrzeuge hielten bei der Gastwirtschaft an, wo die Mannschaften absaßen. Wer diese Truppe herbeordert hatte, war nicht zu ermitteln. Wahrscheinlich erging ein Alarmruf aus Kreisen der verängstigten Dorfbevölkerung oder auch von Seiten politisch belasteter Personen, die Grund zur Sorge um ihre Sicherheit zu haben meinten.

Nach kurzer Besprechung hörte ein Augenzeuge den Ruf "Let's go!", woraufhin die deutsch-britisch gemischte Truppe in Richtung Forst oder Kakelholz ausschwärmte. Danach wurde im Dorf heftiges Gewehr- und Maschinenpistolenfeuer gehört. Neugierige Jungen aus dem Dorf folgten den Soldaten, wurden aber mit Gewehrschüssen vertrieben.

Nach einer gewissen Zeit kehrten die Soldaten zurück und versammelten sich wieder bei der Gaststätte Tode. Als Ergebnis ihres Einsatzes brachten sie vier tote Kriegsgefangene mit und legten sie vor der Gastwirtschaft ab; ein fünfter Kriegsgefangener, der stark aus einer Bauchwunde blutete, verstarb bald (abweichend von dieser Beschreibung spricht Weller von acht Toten).

Zeugen berichten weitere Einzelheiten: S. beobachtete einen deutschen Soldaten, dessen Gewehr am Riemen lose herunterhing, da der Kolben abgebrochen war. Unter dem Gelächter seiner Kameraden erklärte er diesen Umstand so: "Damit habe ich einen Russen erschlagen." Zeuge R. erfuhr, ein schwerverwundeter sowjetischer Kriegsgefangener habe sich in die Nähe eines Hauses schleppen und dort in einem Graben verstecken können. "Aber deutsche Soldaten entdeckten ihn, und einer schlug ihn mit dem Gewehrkolben tot."

Die Toten wurden alsbald im nahen Kakelholz vergraben. Wie lange die


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[Abb. 4: Das Kakelholz bei Hartenholm (Aufnahme 1997)]

Leichen dort blieben, ist unklar. Weller spricht von einer von ihm selber veranlaßten Umbettung auf den neuen Friedhof in Hartenholm.

Nach einer Inspektion durch eine sowjetische Delegation erfolgte dann die endgültige Umbettung auf den Ehrenfriedhof Karberg am Haddebyer Noor bei Schleswig. Die fünf Todesfälle fanden keine Erwähnung in amtlichen Verzeichnissen, weder in den kommunalen noch in den kirchlichen Archiven. Eine Mitteilung des Segeberger Landrats vom 1. Juli 1985 bestätigt die Umbettung von fünf Russen aus Hartenholm nach Schleswig. [4] Bei keiner der Umbettungen fand eine Identifizierung der Leichen statt, weil "offensichtlich kein Rückgriff auf die Registrierung personenbezogener Daten dieser sowjetischen Kriegsgefangenen in Hartenholm möglich war." [5] Ihre letzte Ruhestätte fanden sie in Karberg im Gräberfeld West Reihe 37a Nr. 993-996 und Gräberfeld Süd Reihe 366 Nr. 992. Die Kriegsgräberliste des Volksbundes, Landesverband Schleswig-Holstein, verzeichnet die fünf Toten unter den Nummern 636-640 als "unbekannte" Kriegstote, alle russischer Nationalität und alle gestorben am 8. Mai 1945 in Hartenholm.

2. Die Herkunft der Militäreinheit

Die Frage nach der Herkunft oder der Zugehörigkeit der in Hartenholm eingesetzten Truppe führt zu keiner durch Quellen belegten Antwort. Trotzdem soll ihr, so weit wie möglich, nachgegangen werden. Beim Bundesarchiv/ Militärarchiv in Freiburg finden sich unter den dort "verwahrten Schriftguttrümmern der deutschen Stäbe in diesem Raum" keine Hinweise. [6] Hingegen ist anderen Quellen zu entnehmen, daß es in dem sehr weitläufigen Segeberger Forst während der ersten Maitage des Jahres 1945 manche militärische Be-


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wegung gegeben hat. Mehrfach ist die Rede davon, daß britische Kommandeure nach der Kapitulation deutsche Soldaten wiederbewaffneten und zur Bekämpfung von angeblich aufständischen "marodierenden" Fremdarbeitern einsetzten.

a) Die 8. Fallschirmjäger-Division beendete am 5. Mai im südholsteinischen Raum ihre Kampfhandlungen. Das zu dieser Division gehörende 22. Fallschirmjäger-Regiment befand sich, immer noch unter Waffen, im Raum zwischen Hamburg und Bad Oldesloe. Es soll einer Einheit der 15. schottischen Panzerdivision unterstellt worden sein und habe "in einem dreitägigen Kampf einen Aufstand polnischer und tschechischer Fremdarbeiter" im Segeberger Forst niedergeschlagen. [7] Das Auftreten solch "marodierender" Polen und Tschechen in diesem Raum dürfte einem verbreiteten Klischee entsprechen und wird sonst nicht bestätigt.

b) Ein englischer Autor bezeichnet Kämpfe im Segeberger Forst als "a purely German affair". [8] Eine Wehrmachtseinheit sei einem britischen Befehl gefolgt und habe den Widerstand der sich dort aufhaltenden SS-Soldaten gebrochen, während Teile der britischen Armee das Gebiet abgeriegelt und selber nicht in die Kämpfe eingegriffen hätten.

c) Ein anderer Autor, selber ehemaliger Fallschirmjäger, bietet eine andere Version der Ereignisse an. [9] Angeblich sei das 22. Fallschirmjäger-Regiment von britischer Seite zur bewaffneten Bekämpfung von Soldaten der SS-Division "Hitler-Jugend" aufgefordert worden, die sich im Segeberger Forst festgesetzt und die Kapitulation verweigert hätten. Die Fallschirmjäger hätten den Auftrag ausgeführt. Wohl mit Recht urteilt der Autor: "Fallschirmjäger gegen Kameraden der Waffen-SS - kaum vorstellbar!" Dennoch habe es während jener Tage im Segeberger Forst nicht nur bei Hartenholm lebhaften Gefechtslärm gegeben. Dabei habe es sich jedoch um den Einsatz deutscher Soldaten gegen "bewaffnete, marodierende, ortsfremde durchziehende Russen - nicht Polen und Tschechen - in Wahlstedt und Umgebung" gehandelt.

Hierbei sei eine Anzahl Fremdarbeiter getötet worden, auch jene fünf sowjetischen Kriegsgefangenen in Hartenholm. Diese letzte Vermutung ist unwahrscheinlich, denn der zuvor erwähnte Einsatz soll am 9. oder 10. Mai erfolgt sein und hatte seinen Ausgang im nordöstlich von Hartenholm gelegenen Wahlstedt genommen, während die in Hartenholm operierende Truppe am 8. Mai von Süden her anrückte. Zudem paßt das Auftreten der Kriegsgefangenen in Hartenholm nicht in das Bild von "marodierenden" Fremdarbeitern. Und keiner der Hartenholmer Zeugen berichtete von deutschen Soldaten in der Uniform von Fallschirmjägern, die im Farbton und in den gelben Kragenspiegeln von der allgemeinen Wehrmachtsuniform deutlich abwich.

Mit besseren Gründen folgt man der Spur des Konvois zurück nach Süden über Struvenhütten bis nach Kaltenkirchen. Zumindest muß man in Betracht ziehen, daß ein eventueller Alarmruf aus Hartenholm hier in Kaltenkirchen eingegangen sein konnte. Der in den dortigen Gemarkungen Moorkaten, Heidkaten und Springhirsch gelegene Feldflugplatz der Luftwaffe war am 4. Mai von einer Vorausabteilung des 6. Bataillons der King's Own Scottish


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Borderers besetzt worden. Das Flugfeld und Teile der übrigen Anlagen waren durch einen schweren Luftangriff am 7. April 1945 zerstört worden. [10] In den dort immer noch zahlreich vorhandenen unzerstörten Baracken und anderen Gebäuden errichteten die Briten umgehend ein Lager für deutsche Kriegsgefangene, dessen Belegungszahl auf 1.000 bis 1.500 Mann anwuchs.

Es wird von Vorgängen in diesem Lager berichtet, die einen Bezug zu den Ereignissen in Hartenholm haben könnten. Anfang Mai 1945 scheint es im britisch besetzten Teil des Landes eine rege Werbetätigkeit unter deutschen Kriegsgefangenen gegeben zu haben mit dem Ziel, sie zum Kampf gegen die Rote Armee zu reaktivieren und wieder zu bewaffnen. Solche Freiwilligen fanden sich nicht nur in Kaltenkirchen, sondern auch anderswo. In Kaltenkirchen soll die Aufstellung einer deutschen Division geplant gewesen, der Versuch aber nach etwa acht Wochen wieder aufgegeben worden sein. Diese Freiwilligen wurden sofort aus der Kriegsgefangenschaft entlassen und bewaffnet. [11] Es kann also nicht ausgeschlossen werden, daß der britisch-deutsche Konvoi in Hartenholm aus solchen deutschen Freiwilligen und Teilen der schottischen Division in Kaltenkirchen bestand.

3. Churchills "Geisterarmee"

Das Phantom einer britisch-deutschen Waffenbrüderschaft gegen die Rote Armee, Churchills "Geisterarmee", hatte einen sehr realen politischen Hintergrund. Ein bedeutender Schritt in diese Richtung war bereits Montgomerys gegen bindende alliierte Vereinbarungen verstoßender Waffenstillstand in seinem Frontbereich. [12] Die letzte deutsche Reichsregierung und die Masse der Deutschen setzte ihre letzte Hoffnung auf eine solche Wende im Kriegsgeschehen. Admiral Dönitz als Hitlers Nachfolger empfahl noch am Tage der Kapitulation, "daß sich die Bevölkerung mehr und mehr mit dem Gedanken vertraut macht, daß Deutschland und die Westmächte in absehbarer Zeit gemeinsam gegen den Bolschewismus Front machen werden." [13]

Solche Erwartungen nährte Montgomery auch selber mit seinem Befehl, die Zerstörung deutscher Waffen und Ausrüstungsgüter einzustellen und die Masse der in Schleswig-Holstein zusammengedrängten deutschen Soldaten unter weitgehender Belassung ihrer militärischen Struktur in großen Räumen nur lose zusammenzufassen. Montgomery erinnerte sich an seine damals verfolgte Politik: "Ich wußte, der Krieg gegen Deutschland war praktisch zu Ende. Die vordringliche Aufgabe war daher für mich, so schnell wie möglich weiter vorzustoßen bis zur Ostsee und dann eine Front nach Osten aufzubauen." [14]

Bei diesem Vorgehen konnte sich der Feldmarschall sicher fühlen, wußte er sich doch in Übereinstimmung mit seinem Regierungschef Churchill. Dieser bekannte in einer Rede am 23. November 1954: "Noch vor Kriegsende, während die Deutschen bereits zu Hunderttausenden kapitulierten, [...] telegrafierte ich an Lord Montgomery und wies ihn an, dafür zu sorgen, daß die deutschen Waffen gesammelt würden, damit man sie ohne weiteres wieder an


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die deutschen Soldaten ausgeben konnte, mit denen wir zusammen arbeiten müssen, wenn die Sowjets ihren Vormarsch fortsetzen." [15]

In dieses Konzept passen die Berichte über die beabsichtigte Aufstellung einer deutschen Division bei Kaltenkirchen ebenso wie die Wiederbewaffnung deutscher Wachmannschaften mancher Kriegsgefangenen- und Zwangsarbeiterlager. Und was bei Hartenholm geschah, war offenbar keine einmalige Ausnahme. Es gibt Berichte über eine bei Uetersen aufgestellte Einheit aus Fallschirmjägern, "die im weiteren Umland von Hamburg zur Bekämpfung von Polen, Russen und solchen Leuten" eingesetzt wurde. [16]

4. Mentalitätsgeschichtliche Folgen

Es ist zu fragen, welchen Eindruck Vorgänge wie die in Hartenholm und anderswo bei der dort lebenden deutschen Bevölkerung auf Dauer hinterließen. Für die Menschen, die während der Zeit des Dritten Reiches und bereits lange zuvor auf eine aggressive Politik gegenüber den Völkern Osteuropas eingestimmt worden waren, lag doch der Schluß nahe: Nun sehen auch die Engländer ein, daß nicht sie, sondern wir Deutschen für die richtige Sache gekämpft haben. Nun endlich erkennen auch sie: Der Feind des Abendlandes stand und steht im Osten.

Bei Gesprächen mit Zeitzeugen - nicht nur in Hartenholm - zeigte sich zweierlei: Die Erinnerungsbilder mußten aus tiefer Versenkung hervorgeholt werden. Dann schlossen sich die zutage tretenden Fetzen sehr bald zu Bildern zusammen, die unter starker emotionaler Bewegung zur Mitteilung drängten. Man ist beeindruckt von der Wirkungsmächtigkeit solcher Erlebnisse: Soldaten der britischen Demokratie und solche des nationalsozialistischen Deutschland in einem Konvoi vereint, um mit den Waffen, die sie bis vor wenigen Tagen noch gegeneinander gerichtet hatten, nun Angehörige der verbündeten Sowjets zu bekämpfen, die bis dahin die Schrecken deutscher Gefangenschaft glücklich überlebt hatten!

Gewiß muß hier Abstand davon genommen werden, die Politik Churchills und deren Umsetzung durch Montgomery moralisch zu bewerten. Aber es verbietet sich für die Historiographie, Fakten wie die in Hartenholm isoliert zu betrachten und sie dann in der zeitgeschichtlichen Landschaft so stehen zu lassen. Die hier von britischer Politik und Heerführung benutzten schottischen Soldaten gehörten jenem 6. Bataillon an, das während der Kämpfe auf dem Weg von der normannischen Küste bis Kaltenkirchen 1.200 Tote zu beklagen hatte. [17]

Ist es so abwegig, von hier aus Parallelen zu ziehen zu der Tatsache, daß die britischen Militärbehörden nicht zögerten, wenige Monate nach der Kapitulation an manchen Orten (z.B. in Kaltenkirchen) Nationalsozialisten als Bürgermeister einzusetzen? Wird auf diesem Hintergrund die vergleichsweise lasche Durchführung der Entnazifizierung in der britischen Zone nicht eher verständlich? Möglicherweise ist von daher auch die Flut der "Persil-Scheine" zugunsten internierter NS-Funktionäre eher nachvollziehbar, konnten die Schreiber doch mit weitgehendem Verständnis rechnen. [18] Mußten nicht die


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internierten Nationalsozialisten in Gadeland, Neuengamme und Eselsheide nun als die wahren Vertreter deutscher Interessen erscheinen, jedenfalls mehr als diejenigen, die eine demokratische Selbstreinigung ihrer Gemeinden versuchen wollten und deshalb schnell in die gesellschaftliche Isolierung gerieten? Solch kollektive Erfahrungen und ihre Langzeitwirkung fanden kaum Eingang in Akten oder Dokumente, auch nur selten in die Aussagen von Zeitzeugen. Sie wurden darum zu oft und zu lange übersehen und blieben unberücksichtigt.

Abschließend noch ein Blick zurück in die Wochen unmittelbar nach Kriegsende, als notwendige Ergänzung zu dem bisher Ausgeführten. Harry Weller berichtet, daß die Militärregierung im Sommer 1945 eine Wehrmachtseinheit von 60 bis 70 Mann, Angehörige einer ehemaligen Nachrichtentruppe, nach Hartenholm verlegt hatte. Die Soldaten trugen Wehrmachtsuniformen und waren in den Räumen untergebracht, die vorher mit den Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern belegt gewesen waren. Sie hatten den Auftrag, "hier für Ruhe und Ordnung zu sorgen" und blieben bis ins Jahr 1946 im Dorf. Britische Besatzungssoldaten waren ebenfalls in Todes Mühle einquartiert.

Diese Angaben werden ergänzt durch den Augenzeugen M., der zu derselben Zeit in der Mühle wohnte. Aus unmittelbarer Nähe erlebte er mit, wie der englische Residenzoffizier nicht selten aus Bad Segeberg erschien, um in größerem Kreise "mächtig zu feiern". Die Mühlenbesitzer hatten offenbar beste Beziehungen, um die materiellen Grundlagen solcher Gelage zu schaffen. An solchen Abenden drangen dann die alten Nazilieder durch die offenen Fenster nach draußen - auch dies sicher nicht ohne anreizende beziehungsweise bestätigende Wirkung auf die Öffentlichkeit. Dies war aber keineswegs ein Einzelfall. Ähnliches berichtet ein angesehener Zeuge aus Henstedt-Ulzburg aus der Zeit seines Aufenthaltes in dem oben erwähnten Lager bei Kaltenkirchen. Nachdem dort eine Musikkapelle aufgestellt, Instrumente und Noten beschafft worden waren, trat man "schon bald bei Feierlichkeiten der englischen Soldaten auf, bei denen auch deutsche Wehrmachstlieder wie zum Beispiel das Horst-Wessel-Lied intoniert wurden. [19]

Beispiele einer Mentalitätsgeschichte, die im Blick auf unsere Gegenwart noch kein Ende gefunden hat.

5. Anmerkungen

1. Harry Weller, Die Geschichte und Entwicklung Hartenholms. Ungedr. Text, März 1986.

2. Fragebogen-Aktion der belgischen Regierung über die Landesregierung in Kiel im Sommer 1951. Vgl. Gerhard Hoch/Rolf Schwarz, Verschleppt zur Sklavenarbeit. Alveslohe und Rendsburg, 2. Aufl. 1988. S. 150f.

3. Karsten Dölger, Vom Zwangsarbeiter zum heimatlosen Ausländer. In: Zeitschrift der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte, Band 1996, S. 128.

4. Freundliche Mitteilung von Rolf Schwarz.

5. Mitteilung des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge vom 4.2.1991.

6. Mitteilung vom 23.3. 1991 bzw. 11.8.1995.

7. Erich Busch, Die Fallschirmjägerchronik. Friedberg 1983, S. 163.

8. H. G. Martin, The History of Fifteenth Scottish Divison 1939-1945. Edinburgh und London 1948, S. 338f.

9. Alfred Hofmann, Segeberger Forst im Mai 1945. Innentitel: Ein Beitrag zur Geschichte der 8. Fallschirmjäger-Division. Ungedr. Manuskript, 1988.

10. Gerhard Hoch, Zwölf wiedergefundene Jahre. Kaltenkirchen unter dem Hakenkreuz. Bad Bramstedt (1980), S. 308. Ferner: Thomas Hampel, Die Geschichte des Flugplatzes Kaltenkirchen. Vorläufiger Entwurf, Stand 9. Juli 1995.


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11. Helmut Papenhagen, Skizzen aus dem Leben eines Rhener Bürgers. Henstedt-Ulzburg 1994.

12. Der Spiegel Heft 41/1978, S. 49ff.

13. Arthur Smith, Churchills deutsche Armee. Die Anfänge des Kalten Krieges 1943-1947. Bergisch-Gladbach 1978, S. 84.

14. Smith, a.a.O., S. 67.

15. Smith, a.a.O., S. 11.

16. Mitteilung eines ehemaligen Fallschirmjägers vom 16.10.1995.

17. Hampel, a.a.O., S. 59.

18. Gerhard Hoch, Die Zeit der Persil-Scheine. In: Demokratische Geschichte Bd. 4, 1989, S. 355-371.

19. Papenhagen, a.a.O., S. 12.

Abbildungsnachweise:

Abb. 1, 3 und 4: Foto Gerhard Hoch, Abb. 2: Landesvermessungsamt Schleswig-Holstein


Veröffentlicht in den Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte (Kiel) Heft 32 (Dezember 1997) S. 71-80.


Gerhard Hoch, geboren 1923 in Alveslohe. Absolvent einer nationalsozialistischen Lehrerbildungsanstalt (1942). Kriegsgefangenschaft bis 1948. Abgeschlossenes Studium der katholischen Theologie (1956). Berufliche Tätigkeit als Bibliothekar in Hamburg (bis 1984). Zahlreiche Veröffentlichungen zur NS-Geschichte des südöstlichen Schleswig-Holstein sowie zum Themenkomplex Kriegsgefangene, Fremd- und Zwangsarbeiter.


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