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Bettina Goldberg:
"Zur Sozialgeschichte des Terrors am Beispiel der Verfolgung der jüdischen Bevölkerung Schleswig-Holsteins 1933-1945" - Vorstellung eines Forschungsprojekts

"Ich hatte masl, ich bin schon früh weg", so die 90jährige Rachel Lehmann, eine gebürtige Lübeckerin, die 1934 ihre Heimatstadt verlassen hat, um sich in Palästina eine neue Existenz aufzubauen. Rachel Lehmann wohnt heute in Jerusalem. Sie ist eine von 30 ehemaligen Schleswig-Holsteinern, die im März 1997 in Israel über ihre Erfahrungen im nationalsozialistischen Schleswig-Holstein, die Flucht und den Neubeginn in Palästina befragt worden sind. Die Interviews stehen im Kontext des von der Volkswagen-Stiftung finanzierten Forschungsprojekts "Zur Sozialgeschichte des Terrors am Beispiel der Verfolgung


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der jüdischen Bevölkerung Schleswig-Holsteins 1933-1945", das seit August 1996 von Prof. Gerhard Paul und Dr. Bettina Goldberg unter Mitarbeit von Erich Koch am Institut für Zeit- und Regionalgeschichte in Schleswig durchgeführt wird. Ziel des Forschungsprojekts ist, den terroristischen Prozeß der Verfolgung der jüdischen Bevölkerung in Schleswig-Holstein, d. h. in einer überschaubaren, primär ländlich strukturierten Region, differenziert und umfassend zu untersuchen und darzustellen und somit neue Aufschlüsse vor allem über die bürokratischen und gesellschaftlichen Hilfs- und Unterstützungsleistungen für den staatlich gelenkten NS-Terror zu liefern. Das Projekt soll eine zentrale Lücke in der landesgeschichtlichen Forschung schließen und zugleich einen Beitrag zur Sozialgeschichte des NS-Terrors im allgemeinen leisten.

Seiner Zielsetzung entsprechend beschränkt sich das Projekt nicht allein darauf, die Rolle genuiner nationalsozialistischer Neuschöpfungen wie der Gestapo, der SA und der SS im Prozeß der Verfolgung zu analysieren. Dieser traditionelle Ansatz hat vielfach zu einer Fixierung auf die Lager und Gefängnisse des "SS-Staates" geführt, während der soziale Kontext des Terrors und somit Formen der Anpassung, der Zustimmung und der Mittäterschaft ausgeblendet blieben, die deutsche Gesellschaft gleichsam entschuldet wurde. Demgegenüber geht es im Projekt auch und vor allem um die Frage nach der Unterstützung des Prozesses der Judenverfolgung durch Verwaltung, Polizei und Bevölkerung, ohne die die Eskalation der nationalsozialistischen Judenpolitik bis hin zum Holocaust kaum möglich gewesen wäre.

Die Arbeit ist zweigleisig angelegt. Neben der Untersuchung der staatlichen und gesellschaftlichen Verfolgungsmechanismen strebt das Projekt die Erforschung der individuellen wie kollektiven Reaktionen der jüdischen Verfolgtengruppen während der verschiedenen Phasen der Verfolgung an. Es geht damit von einem Verfolgungsbegriff aus, der die Verfolgten nicht bloß als passive Objekte, sondern zugleich auch als gegensteuernde, reagierende und sich selbstbehauptende Subjekte begreift. Untersucht werden Formen kollektiver Selbstbehauptung der jüdischen Bevölkerung, wie jüdische Wohlfahrts-, Kultur- und Bildungsinstitutionen, Vereine und Einrichtungen zur Vorbereitung auf und zur Hilfe bei der Emigration. Untersucht werden auch individuelle Reaktionen, so die Flucht in die anonymeren Großstädte, die Rettung durch Auswanderung oder der Suizid.

Geographisch zielt das Forschungsprojekt in erster Linie auf das Gebiet des heutigen Bundeslandes Schleswig-Holstein, also auch auf die erst 1937 hinzugekommene Hansestadt Lübeck. Darüber hinaus werden wegen ihrer Bedeutung als Sitz des Oberrabbinats bzw. des jüdischen Provinzialverbandes mit Altona und Wandsbek zwei 1937 nach Groß-Hamburg eingemeindete Städte einbezogen. Der Schwerpunkt der Untersuchung liegt auf solchen Städten und Kleinstädten, die entweder eine eigene jüdische Gemeinde hatten, namentlich also auf Kiel, Lübeck, Ahrensburg, Elmshorn, Friedrichstadt, Rendsburg und Segeberg, oder die einer jüdischen Gemeinde angeschlossen waren, wie das z. B. bei Flensburg, Itzehoe und Neumünster der Fall war.


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Außerdem soll durch Einbeziehung der Entwicklung in ausgewählten Bade- bzw. Kurorten der Tatsache Rechnung getragen werden, daß Schleswig-Holstein für viele Juden Urlaubsziel war.

Zeitlich bilden die Jahre von der nationalsozialistischen Machtübernahme bis zur Deportation der schleswig-holsteinischen Juden in die Großghettos und Vernichtungslager das Zentrum der Untersuchung. Um den sozialen Kontext von stillschweigender Akzeptanz bis hin zu aktiver Unterstützung der nationalsozialistischen Verfolgungsmaßnahmen präziser in den Blick zu bekommen, werden darüber hinaus die konkreten alltäglichen Mechanismen der Diskriminierung und Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung bis hinein in die Wilhelminische Kaiserzeit zurückverfolgt sowie die politische Funktionalisierung des Antisemitismus im Aufstiegsprozeß der NSDAP in den 1920er Jahren untersucht. Dabei hat die Analyse des Antisemitismus in der frühen NSDAP-Hochburg Schleswig-Holstein von dem besonderen Phänomen auszugehen, daß der jüdische Bevölkerungsanteil vergleichsweise gering war - 1925 lag er bei unter 0,3 Prozent - und sich zudem primär auf die Städte des Landes konzentrierte. Der Rückblick auf die Zeit seit der Jahrhundertwende erlaubt darüber hinaus die Rekonstruktion des jüdischen Milieus in Schleswig-Holstein bis zum Vorabend der "Machtergreifung", eine notwendige Voraussetzung, um die Auswirkungen der nationalsozialistischen Verfolgungspolitik auf eben dieses Milieu genau bestimmen zu können.

Das Projekt kann sich auf eine Reihe von Aufsätzen, zudem einige wenige Monographien stützen, die seit 1980 zu verschiedenen jüdischen Gemeinden und zum Schicksal einzelner Familien publiziert worden sind. Die Hauptaufgabe besteht jedoch in der Sichtung, Sammlung und Auswertung archivalischer Quellen. Auskunft über das jüdische Milieu in Schleswig-Holstein geben neben der Lokalberichterstattung in den jüdischen Zeitungen vor allem die Akten des Oberrabbinats in Altona, die Akten der jüdischen Gemeinden und ihrer Einrichtungen sowie die Akten der Ortsgruppen jüdischer Vereine. Soweit sie überliefert sind, befinden sich diese Akten zum überwiegenden Teil im Staatsarchiv Hamburg, im Archiv der "Stiftung Neue Synagoge Berlin - Centrum Judaicum", im Zionistischen Zentralarchiv, Jerusalem, und im Zentralarchiv für die Geschichte des Jüdischen Volkes, ebenfalls Jerusalem. Von herausragender Bedeutung für das Projekt sind außerdem die Memoiren und Nachlässe ehemaliger Schleswig-Holsteiner im Archiv des Leo Baeck Instituts in New York.

Auskunft über den Verlauf einzelner antisemitischer Aktionen, über die Struktur der Täter sowie über Qualität und Quantität des zeitgenössischen Denunziantentums geben in erster Linie die Akten der Zentralbehörden und der Kreise aus der NS-Zeit sowie die Ermittlungs- und Strafverfahrensakten der Landgerichte, die Entnazifizierungs- und die Entschädigungsakten aus der Nachkriegszeit, die sich im Landesarchiv in Schleswig, zum Teil auch im Archiv der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem befinden. Aufschlußreich sind darüber hinaus die Bestände in den Stadtarchiven, und zwar insbesondere die Akten der Polizei- und Meldebehörden. Eine hervorragende Quelle für die


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Erforschung der Täterseite stellen schließlich die Akten des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (ab 15.9.1935 Centralverein der Juden in Deutschland) dar. Dies gilt insbesondere für die Korrespondenz zwischen den örtlichen Vertrauensleuten des Centralvereins und der Leitung in Berlin. Inwieweit allerdings Schleswig-Holstein in diesem Bestand repräsentiert ist, muß noch im U.S. Holocaust Memorial Museum in Washington überprüft werden, wo sich Mikrofilme der aus dem Sonderarchiv in Moskau stammenden Akten befinden.

Weder zum jüdischen Milieu noch zur Seite der Verfolgung ist die schriftliche Überlieferung so vollständig, daß sie nicht dringend der Ergänzung durch die Erinnerungen der Betroffenen bedürfte. Aus diesem Grunde sind außer den in Israel bereits durchgeführten Zeitzeugen-Interviews weitere Gespräche mit überlebenden Schleswig-Holsteinern in England und den USA, zwei ebenfalls wichtigen Exil- bzw. Emigrationsländern, geplant. Außerdem wird der briefliche Kontakt zu Überlebenden gesucht, die in anderen Teilen der Welt - etwa in Argentinien, Brasilien oder Chile - eine neue Heimat gefunden haben.

Erste Ergebnisse des Forschungsprojektes werden im Herbst 1998 der Öffentlichkeit vorgelegt werden. In Zusammenarbeit mit Prof. Miriam Gillis-Carlebach (Tel Aviv), der Tochter des in Riga ermordeten Oberrabbiners Dr. Joseph Carlebach, ist ein Sammelband zu jüdischem Leben und Antisemitismus in Schleswig-Holstein geplant, zu dem auch Holocaust-Überlebende sowie namhafte Wissenschaftler aus Deutschland, Israel und Übersee beitragen.


Veröffentlicht in den Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte (Kiel) Heft 31 (Juni 1997) S. 69-72.


Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte Heft 31

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