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Nationalsozialismus in der Region

In den letzten zwei Jahrzehnten hat die Zahl der Regionalstudien zum Nationalsozialismus rapide zugenommen. Der überwiegende Teil der neu erschienenen Ortsgeschichten spart die Zeit von 1933 bis 1945 nicht mehr schamhaft aus, sondern versucht, den städtischen oder dörflichen Alltag in dieser Phase


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der historischen Entwicklung sowie lokale Besonderheiten herauszuarbeiten. Einerseits stehen dabei Widerständigkeit und Verfolgung durch den nationalsozialistischen Staat im Vordergrund, andererseits wird die Betonung auf die hohe Akzeptanz der faschistischen Herrschaft und ihrer Durchsetzungsstrategien gelegt. Parallel entfalten bereits länger bestehende oder erst neu gegründete regionale Forschungs- und Vermittlungsinstitute zur Geschichte des Nationalsozialismus eine emsige Tagungs-, Publikations- und Vortragstätigkeit.

Die Erträge der Regional- und Lokalforschung sind beachtlich; tatsächlich kann U. Büttner zugestimmt werden, die im vorliegenden Band schreibt: "In keinem Bereich der Zeitgeschichte haben regional- und lokalhistorische Arbeiten eine solche Bedeutung erlangt wie bei der Erforschung des Nationalsozialismus." (S. 87). Da war es eigentlich überfällig, daß das renommierte Institut für Zeitgeschichte in München in Verbindung mit dem Lehrstuhl für Bayerische Geschichte an der dortigen Universität 1993 eine Tagung zum Thema "Nationalsozialismus in der Region" ausschrieb und durchführte. Die Vorträge dieser Tagung sind im anzuzeigenden Band - zusammen mit zwei Diskussionsbeiträgen - abgedruckt.

Das Vorwort von Horst Möller befaßt sich thematisch mit "Regionalismus und Zentralismus in der neueren Geschichte. Bemerkungen zur historischen Dimension einer aktuellen Diskussion" (S. 9 - 22); die dem landesgeschichtlich arbeitenden Historiker nicht neuen Erkenntnisse haben vor allem ihren Stellenwert im Rahmen einer Debatte über das Postulat des streng zentralstaatlich organisierten Nationalsozialismus. Im ersten thematischen Block über die Regionalgeschichte des Nationalsozialismus als historiographisches Problem stellt Andreas Wirsching in einem Forschungsüberblick Tendenzen der Forschung und methodische Probleme dar (S. 25 - 46). Zu seinem - nach meinem Eindruck den norddeutschen Raum etwas zu wenig berücksichtigenden - Abriß gibt es zwei Diskussionsbeiträge von Werner K. Blessing und Gerhard Brunn / Jürgen Reulecke, die nachhaltig die Bedeutung der Regionalgeschichte für die Geschichte des Nationalsozialismus unterstreichen.

Ein zweiter Block unter der Überschrift "Regionale Profile des Nationalsozialismus vor 1933" wird durch die Referate von Hellmuth Auerbach "Regionale Wurzeln und Differenzen der NSDAP 1919 - 1923" (S. 65 - 85) und Ursula Büttner "'Volksgemeinschaft' oder Heimatbindung: Zentralismus und regionale Eigenständigkeit beim Aufstieg der NSDAP 1925 - 1933" (S. 87 - 96) gebildet. Liegt der Schwerpunkt der erstgenannten Ausführungen auf dem süddeutschen Raum, so versuchen die letztgenannten, die zentripetalen Kräfte des Nationalsozialismus deutlich zu machen und die Berücksichtigung regionaler Eigenheiten höchstens als "symbolische Zugeständnisse an regionale Traditionen" zu begreifen - ein Ansatz, über den trefflich gestritten werden kann.

Im dritten Block "Zentralismus, partikuläre Kräfte und regionale Identitäten im NS-Staat" kommen Michael Ruck ("Zentralismus und Regionalgewalten im Herrschaftsgefüge des NS-Staates", S. 99 - 122), Volker Dahm ("Kulturpolitischer Zentralismus und landschaftlich-lokale Kulturpflege im Dritten


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Reich", S. 123 - 138), Walter Ziegler ("Gaue und Gauleiter im Dritten Reich", S. 139 - 159), Kurt Düwell ("Gauleiter und Kreisleiter als regionale Gewalten des NS-Staates", S. 161 - 174) und Heinz-Jürgen Priamus ("Regionale Aspekte in der Politik des nordwestfälischen Gauleiters Alfred Meyer", S. 175 - 195) zu Wort. Außer der letztgenannten Regionalstudie handelt es sich hierbei um Überblicksdarstellungen, in denen der bisher erreichte Wissensstand zuverlässig wiedergegeben wird, auch wenn die spezielleren Kenntnisse der Autoren jeweils wieder aus Vorarbeiten in einzelnen Regionen resultieren.

Der vierte Block "Soziale Milieus, lokale Gesellschaft und Nationalsozialismus" vereinigt Wolfram Pyta ("Ländlich-evangelisches Milieu und Nationalsozialismus bis 1933", S. 199 - 212), Cornelia Rauh-Kühne ("Katholisches Sozialmilieu, Region und Nationalsozialismus", S. 213 - 235), Jeremy Noakes ("Nationalsozialismus in der Provinz: Kleine und mittlere Städte im Dritten Reich 1933 - 1945", S. 237 - 251) und Detlef Schmiechen-Ackermann ("Großstädte und Nationalsozialismus 1930 - 1945", S. 253 - 270). Auch diese Beiträge sollen Überblicksdarstellungen sein und erfüllen diese Vorgabe recht gut bis auf Noakes, dessen Städteauswahl etwas eng erscheint.

Der fünfte und sechste Block stellen nationalsozialistische Bewegungen im Ausland (Christoph Boyer und Jaroslav Kucera: "Die Deutschen in Böhmen, die Sudetendeutsche Partei und der Nationalsozialismus", S. 273 - 285, und Cornelia Wilhelm: "'Deutschamerika' zwischen Nationalsozialismus und Amerikanismus", S. 287 - 302) bzw. das Regionalismusproblem für außerdeutsche faschistische Regimes (Roger Engelmann: "Regionalismus und Zentralismus in der faschistischen Bewegung Italiens", S. 306 - 312, Walther L. Bernecker: "Regionalismus und Zentralismus im spanischen 'Faschismus' bzw. im Franco-Regime", S. 313 - 327, und Ernst Hanisch: "Peripherie und Zentrum: die Entprovinzialisierung während der NS-Herrschaft in Österreich", S. 329 - 334) vor.

Der Versuch, sich mit dieser Tagung eine Art Überblick über das Problem von Zentralismus und Regionalismus während der Zeit des Nationalsozialismus nicht nur in Deutschland zu verschaffen, ist gelungen. Jedenfalls öffnen alle Beiträge den Blick auf die beachtlichen regionalen Kräfte, die die nationalsozialistische Zentralgewalt zulassen konnte und wohl auch mußte. Die landesgeschichtliche Forschung wird damit ein weiteres Mal ermuntert, sich noch mehr als bisher der Zeit zwischen 1919 und 1960 anzunehmen und regionale Spezifika der wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und politischen Entwicklung herauszuarbeiten.

Daß es dafür gute Ansätze gibt, zeigen regionale Forschungseinrichtungen wie das erst vor wenigen Jahren ins Leben gerufene "Institut für schleswig-holsteinische Zeit- und Regionalgeschichte", das es sich zur Aufgabe gemacht hat, den Nationalsozialismus in einer Provinz unter Berücksichtigung seiner weit zurückreichenden Vorgeschichte, aber auch seiner Nachwirkungen zu erforschen. Mir scheint, daß das Begreifen und Verstehen des Aufstiegs und der schließlich so breit akzeptierten Herrschaft des Nationalsozialismus überhaupt nur über regional- und lokalgeschichtliche Herangehens-


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weisen bewirkt werden kann. Denn nur damit können Exkulpationsversuche ("das geschah alles irgendwie weit weg, in Berlin oder so...") gründlich desavouiert werden.

Klaus-J. Lorenzen-Schmidt

Nationalsozialismus in der Region. Beiträge zur regionalen und lokalen Forschung und zum internationalen Vergleich, hrsg. v. H. Möller, A. Wirsching u. W. Ziegler. München: Oldenbourg 1996. 350 S.


Veröffentlicht in den Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte (Kiel) Heft 30 (Dezember 1996) S. 78-81.


Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte Heft 30

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