Stefanie Hose

Kay Dohnke / Norbert Hopster / Jan Wirrer (Hrg.): Niederdeutsch im Nationalsozialismus. Studien zur Rolle regionaler Kultur im Faschismus.

Hildesheim: Olms 1994. 554 S. m. zahlreichen Abbildungen

Niederdeutsch im Nationalsozialismus - der Titel benennt einen Sachverhalt, der keine Verwunderung auslösen dürfte. Warum sollten die Nationalsozialisten ausgerechnet die niederdeutsche Sprache nicht für ihre Zwecke funktionalisiert, sich ausgerechnet der niederdeutschen Ausdrucksweisen nicht bedient haben, um "Nähe zum Volk" herzustellen?

Erst die Frage, worin die Besonderheiten niederdeutscher Propaganda - etwa im Unterschied zur Verwendung der hochdeutschen Sprache - lagen, läßt auf neue Erkenntnisse hoffen. Als Voraussetzung für eine solche Untersuchung hätte dann allerdings die Bewertung des Niederdeutschen per se als "gemütliches" und "harmloses" Idiom als Wunschdenken heimattümelnder Nettigkeitsdiktatoren entlarvt werden müssen.

Dies jedoch wird von den Herausgebern nicht explizit thematisiert, und so mag der Eindruck entstehen, daß das populäre Klischee von der Sprache der Unschuld doch wieder als Kontrast zum Bild des gewalttätigen NS-Regimes aufgebaut, unter dem Motto "Was kann das nette, harmlose Plattdeutsch mit der bösen, grausamen Politik zu tun haben?" Daß die Herausgeber die niederdeutsche Sprache nicht nur als Vehikel zur Formulierung von Harmlosigkeiten und Döntjes einordnen, ergibt sich aus dem Buch als Gesamtwerk; nichts desto trotz sind unnötige Bemühungen, Thema und Konzept und schließlich das Buch überhaupt zu rechtfertigen, die Folge.

Nachdem sich die Leser über elf Seiten mühen müssen, diese falschen Prämisse zu überwinden, kommen sie zu einem Beitrag von Norbert Hopster mit dem Titel: "Die kulturelle Tradition in Deutschland und die nationalsozialistische Revolution". Da werden im ersten Teil viele Fragen und Absichtserklärungen aufgeworfen. Im zweiten Teil jongliert der Autor mit Begriffen wie "Kultur" und "Zivilisation", "Gemeinschaft" und "Gesellschaft", offenbar unbeeindruckt von der sozialwissenschaftlichen Festegung dieser Begriffe, wirft weitere Fragen auf, verheddert sich in seiner eigenen terminologischen Ungenauigkeit und in inhaltlichen Widersprüchen.

Dieser erste von insgesamt vierzehn Aufsätzen wirkt verwirrend und unangebunden an das Thema des Buches. Anders der Beitrag von Konrad Köstlin: "Niederdeutsch und Nationalsozialismus. Bemerkungen zur Geschichte einer Beziehung". Köstlin zeichnet die historische Entwicklung der Affinität Niederdeutsch / Nationalsozialismus im Rahmen regionaler Kultur nach und verfolgt die langsame Verbreitung ideologischen Gedankenguts aufgrund der gesellschaftlichen Situation im 19. Jahrhundert.

Schritt für Schritt wird der Leser in den folgenden Beiträgen von Jan Wirrer, Michael Töteberg, Kay Dohnke, Utz Maas, Reinhard Goltz, Gerd Spiekermann, Dieter Andresen, Bernd Jörg Diebner, Gabriella Klein, Tommaso Baiano und Thomas Strauch mit verschiedenen Aspekten konfrontiert, die die Beziehung Niederdeutsch und Nationalsozialismus ausmachten: So wird z.B. aufgedeckt, wie die Institutionen der "niederdeutschen Bewegung" (etwa die Fehrs-Gilde oder der Quickborn) von den Nationalsozialisten für deren Zwecke vereinnahmt wurden bzw. inwieweit sie sich vereinnahmen ließen und welche Personen maßgeblich an diesen Prozessen beteiligt waren. Die Verwendung der Sprache als Propagandamittel und die Position der Sprachwissenschaft sowie die Entwicklung der Linguistik in dieser Zeit, die Rolle niederdeutscher Schriftsteller - insbesondere der Brüder Kinau und die Vermarktung der Werke Gorch Focks - , das Niederdeutsche im nationalsozialistischen Rundfunk, in der Presse und in kirchlichen Zusammenhängen werden untersucht.

Am Ende des Bandes findet sich ein Beitrag mit dem Titel "Dialekt und Faschismus", der - über den norddeutschen Horizont hinausschauend - parallele Entwicklungen im Umgang mit Mundart im faschistischen Italien aufzeigt. Abschließend zieht Thomas Strauch eine Bilanz zur wissenschaftlichen Diskussion des Themas Niederdeutsch und Nationalsozialismus. Dabei wird deutlich, daß Verschweigen und Verdrängung lange Zeit diese Beziehung tabuisiert haben.

Die verschiedenen Aufsätze bieten ein aufschlußreiches Spektrum: es wird deutlich, daß weder die Institutionen, die sich der niederdeutschen Sprache verpflichtet fühlten, noch die Schriftsteller, die sich dieser Sprache bedienten, oder die Kultur, die mit dieser Sprache und der Region in Zusammenhang steht, sich den Einflüssen des Nationalsozialismus entziehen konnten oder wollten. Es wird deutlich, inwieweit diese Beziehung symbiotisch war und bewußt gefördert und genutzt wurde. Anhand einzelner Aspekte werden Strukturen und Entwicklungen aufgezeigt, die in der "plattdeutschen Szene" gern vergessen und verdrängt werden.

Insofern ist dieses Buch, trotz der anfangs erwähnten Schwächen, eine wichtige und längst überfällige Untersuchung.


Veröffentlicht in den Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte (Kiel) Heft 29 (Juni 1996) S. 59-60.


Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte Heft 29

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