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Frank Omland

Götz Aly: "Endlösung". Völkerverschiebung und der Mord an den europäischen Juden.

Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 1995. 452 S.

1989 hatten Götz Aly und Susanne Heim in Historikerkreisen mit ihren Thesen zur Rationalität bzw. Ökonomie der "Endlösung" heftige Debatten und Polemiken ausgelöst (vgl. dazu: Wolfgang Schneider (Hg.): "Vernichtungspolitik". Eine Debatte über den Zusammenhang von Sozialpolitik und Genozid im nationalsozialististi-


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schen Deutschland, Hamburg 1991). Sie hatten den Blick auf den Zusammenhang von bevölkerungspolitischen Planungen der mittleren Eliten im Staatsapparat und dem Völkermord gerichtet, was einigen Auschwitz als Symbol des Holocaust zu relativieren schien.

In ihrem Buch "Vordenker der Vernichtung" (S. Fischer Verlag, 1991) belegten sie ihre Thesen mit neuen Quellen eindrucksvoll und schrieben: "Die aggressive Ideologie des Nationalsozialismus, die alte Vorurteilsmuster aufnahm und ständig aktivierte, mußte sich mit der Aggressivität umfassender Sanierungs-, Entwicklungs- und Neuordnungspläne kreuzen, um Auschwitz Wirklichkeit werden zu lassen. Diese Pläne aber enthalten zumindest Ansätze zu einer regelrechten Theorie des Völkermords." (S. 492) Als Fazit schlossen sie: "Das konzeptionelle Denken aber, in dem Massenmord zum "sinnvollen" Mittel struktur- und entwicklungspolitischer Planungen wurde, ist nach wie vor aktuell." (ebd.)

"Endlösung" nimmt zum einen diesen Gedanken wieder auf, richtet den Blick aber auf die Praktiker, die Täter und deren scheiternde Versuche, die Vorgaben der Planer zu erfüllen. Durch neues Quellenstudium - hauptsächlich in osteuropäischen Archiven - werden interessante und wichtige neue Zusammenhänge belegt. So hebt Aly bspw. die Doppelfunktion von Heinrich Himmler als Reichsführer SS und als "Reichskommissar für die Festigung des deutschen Volkstums" (RKF) hervor. In der Funktion als RKF war er für die Durchführung der "Heim ins Reich"-Politik zuständig, d.h. den Versuch, sogenannte Volksdeutsche aus ganz Europa ins Deutsche Reich umzusiedeln. Dies schuf faktische Probleme, die zum einen - durch den "Zwang" zur "Freimachung" von Plätzen für "zurückkehrende" Volksdeutsche aus Osteuropa - zum Beginn der Verbrechen an Geisteskranken führten: "In der ersten Phase der Umsiedlung ethnischer Deutscher kam es zum ersten systematischen Massenmord. In kausalen Zusammenhang zum Heim ins Reich der 60.000 Baltendeutschen ermordeten zwei Kommandos der SS von Oktober 1939 bis ins Frühjahr 1940 hinein mehr als 10.000 Geisteskranke." (S. 114). Aus den ehemaligen Heilanstalten wurden Unterkünfte und Durchgangslager für die Volksdeutschen.

Zum anderen kam eine Art selbstinduzierten "Verschiebungsdrucks" auf, infolgedessen Polen nun ihre Höfe für Volksdeutsche räumen mußten, die Juden wiederum für die Polen und die Juden ihrerseits dann - im Generalgouvernement - in einer als vorübergehend gedachten Aktion ghettoisiert wurden, ohne daß die Handelnden die Probleme solcher Maßnahmen überhaupt überschauen, geschweige denn ihre Folgen ermessen konnten. Bei der Vertreibung der Polen von ihren Höfen traten wiederum die Planer, die Bevölkerungsökonomen auf den Plan: Sie legten fest, wieviele polnische Höfe jeweils für eine volksdeutsche Familie zu räumen seien, um eine sinnvolle Bewirtschaftung zu sichern. Konkret ging es hier um strukturpolitische Maßnahmen, die auf dem Rücken der polnischen und jüdischen Bevölkerung ausgetragen wurden.

Da das Deutsche Reich seit dem Überfall auf Polen außenpolitisch keine Rücksichten mehr glaubte nehmen zu müssen, durch den Krieg eine Atmosphäre der Nichtöffentlichkeit befördert wurde und die Menschen in Deutschland auf sich


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und ihre persönlichen (Überlebens-)Probleme zurückgeworfen waren, konnten dann viel radikalere "Lösungen" für die rassistische Ausgrenzung bestimmter Bevölkerungsgruppen verwirklicht werden. Die NS-Führung marginalisierte die jüdische Bevölkerung, warf sie faktisch aus der Gesellschaft hinaus, betrieb also ihre Desintegration, verbaute aber gleichzeitig durch diese Politik der Entrechtung und das Hineintreiben der Juden in die finanzielle Armut den Weg, ihnen die zwangsweise Auswanderung zu ermöglichen.

Dieser Mechanismus einer sich selbst blockierenden Politik sollte in der Folge eine nicht unerhebliche Rolle spielen. So verschärfte laut Aly bspw. die Abschiebung der jüdischen Bevölkerung aus dem besetzten Westpolen ins Generalgouvernement die sozialen und wirtschaftlichen Konflikte dort so massiv, daß diese selbstgeschaffenen Probleme als neue "objektive" Gegebenheiten ins Feld geführt wurden, um die "Bereinigung der Judenfrage" zu erzwingen. Die Ghettoisierung stellt sich im Lichte der neuen Forschungsergebnisse als Versuch einer kurzfristigen, einer Übergangs"not"lösung dar.

Aly zeigt mit Hilfe von vier als eigenständige Kapitel eingearbeiteten Chronologien das "System kumulativer Radikalisierung" (Mommsen) beim Entscheidungsprozeß auf: Die durch Himmler, Heydrich und deren Untergebenen aufgestellten Pläne (Herbst 1939: Judenreservat Lublin; Sommer 1940: Madagaskar-Plan; Frühjahr 1941: "Ostraumlösung", d.h. die biologische Vernichtung der Juden durch Zwangsaussiedlung und Zwangsarbeit in den eroberten Gebieten der Sowjetunion) scheitern jeweils an spezifischen militärischen, teils ökonomischen und politischen Gegensätzen und Gegebenheiten. Die Abwanderung der Juden war aber längst fest eingeplant, zum festen Fakt erhoben worden. Ghettos und Lager galten als improvisierte, aber nur vorläufige Lösung, der eine Gesamtlösung, eine "Endlösung", ein endgültiges Verschwinden der Juden nachfolgen würde.

Wie eine solche Lösung aussehen konnte, zeigten den Tätern die Euthanasie-Morde auf: "Die Erfahrung der "Aktion T4" blieb für die späteren Organisatoren der "Endlösung der Judenfrage" grundlegend. Sie gab ihnen die Gewißheit, daß systematisch geplanter und arbeitsteilig organisierter Massenmord mit dem deutschen Staatsapparat und der deutschen Bevölkerung prinzipiell möglich war." (S. 373) "Die deutschen Spitzenbeamten, Minister und Führer hatten daraus eine für die weiteren Entscheidungen wesentliche Erfahrung gewonnen: Die Logik der "Geheimen Reichssache" lag in der Sicherheit, daß Tarnbegriffe nicht hinterfragt, sondern als Möglichkeit zur Verdrängung und zur Indifferenz nicht nur dankbar akzeptiert, sondern erwartet wurden." (S. 374) Die NS-Führung wußte also um die Möglichkeit, bestimmte Bevölkerungsgruppen zu ermorden, und für sie war seit der "Aktion T4" der industrielle Massenmord denkbar geworden. Und nachdem den Praktikern jede andere "Problemlösung" verbaut war, gingen diese den nur kleinen Schritt zur Errichtung von Vernichtungslagern (vgl. S. 358ff).

Das abschließende Fazit Alys lautet: "Denn soviel ist nach den hier ausgebreiteten Quellen und Untersuchungsergebnissen sicher: Es gab keinen voluntaristischen "Entschluß" zum systematischen, industriellen Mord an den europäischen Juden. [...] Demgegenüber zeigen die vorangegangenen Kapitel, in wel-


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chem Ausmaß auch für die "Endlösung" die gängigen Regeln staatlich-bürokratischer Prozeduren gelten. [...] Die Übergänge zwischen Planungen, Beschlüssen und Praxis blieben fließend, die Grenzen zwischen den beteiligten und interessierten Institutionen durchlässig." ( S. 389) In diesem Sinne stellt sich die "Endlösung" nicht als ein Entscheidungsakt dar, sondern als Entscheidungsprozeß, in dessen Verlauf die Beteiligten einen Konsens herstellten. Die einen "begriffen den Massenmord als einfachste Art der Realisierung jener Nah- und Fernpläne, die sie seit bald zwei Jahren immer neu entwickelt hatten und nicht verwirklichen konnten. Die Vertreter aller anderen Institutionen stimmten dem neuen "Lösungsweg" deshalb zu, weil er ihre Interessen nicht tangieren würde und sie alle das Verschwinden der Juden längst fest in ihr Kalkül einbezogen, sie enteignet, zusammengedrängt und so behandelt hatten, als wären sie schon weg." (S. 400)

Ich halte Götz Alys Buch für eine der wenigen grundlegenden neuen Veröffentlichungen zum Thema und kann ihm nur eine sehr große Verbreitung wünschen.


Veröffentlicht in den Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte (Kiel) Heft 28 (Dezember 1995) S. 79-82.


Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte Heft 28

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