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Herbert Diercks: Zum Tode von Victor Andersen

Am 31. Mai 1995 verstarb Victor Andersen 87jährig in seiner Heimatstadt Uetersen. Ich möchte an den lieben Menschen und die interessante Persönlichkeit schleswig-holsteinischer Zeitgeschichte erinnern.

Ich lernte Victor Andersen vor etwa fünfzehn Jahren kennen, als ich in Vorbereitung meines Buches "Die Freiheit lebt!" über Widerstand und Verfolgung im Kreis Pinneberg recherchierte. Als ich ihn zur Befragung aufsuchte, lud er mich in sein Auto und fuhr mit mir durch die Haseldorfer Marsch oder an die Elbe. Ein anderes Mal gingen wir ins Rosarium in Uetersen. Immer lud er mich zum Essen ein. Er war ein sehr großzügiger Mensch, und er ließ es sich nicht nehmen, mir die Stadt Uetersen und ihre schöne, reizvolle Umgebung zu zeigen. Die Treffen wiederholten sich; Victor Andersen wußte sehr viel zu erzählen. Auch nach Fertigstellung des Buches 1983 riß der Kontakt nie ab, und ich erinnere mich an viele Begegnungen mit ihm.

Ein sehr starkes Erlebnis hatte ich bei der ersten Zusammenkunft mit Victor Andersen Ende der 70er Jahre. Wir saßen in der Wohnung eines Freundes von ihm, einem ehemaligen kommunistischen Widerstandskämpfer. Victor Andersen, der einer sozialdemokratischen Familie entstammte und seit seiner Jugend der SPD und ihren Unterorganisationen angehörte, und Josef Kristen, einem kommunistischen Elternhaus entstammend und zum Zeitpunkt des Treffens DKP-Mitglied und Vorsitzender der VVN Schleswig-Holstein, ergänzten sich gegenseitig in ihren Schilderungen der politischen Verhältnisse in Uetersen vor und nach 1933. Ideologische Unterschiede spielten in ihren Schilderungen keine Rolle. Voller Stolz berichteten sie von gemeinsamen Aktionen von Antifaschisten beider Parteien bereits vor dem 30. Januar 1933, davon, daß es in Uetersen im Februar 1933 eine große Einheitsdemonstration von Sozialdemokraten und Kommunisten gegeben habe, daß Sozialdemokraten und Kommunisten im Widerstand in Uetersen auf breiter Grundlage - basierend auf vielerlei persönlichen Freundschaften und der gemeinsamen starken Ablehnung der Nazibewegung - zusammengearbeitet hätten, und daß selbst im "KolaFu" und in den Lagern im Emsland diese Gemeinsamkeiten in Form von gegenseitiger Achtung und Hilfe gepflegt und fortentwickelt worden seien. Beide ehemaligen Widerstandskämpfer waren sich darin einig, daß die Nazis nicht an die Macht gekommen wären, wenn die Arbeiterbewegung überall so stark und so einig gewesen wäre wie in Uetersen.

Später, als ich Anklageschriften und Urteile des Berliner Kammergerichts zum Komplex "Offenborn und andere" auswertete, fand ich in diesen Unterlagen vielfache Bestätigungen der mündlichen Berichte. Hier war nachzulesen, was die Gestapo den Ende 1934 und Anfang 1935 Verhafteten an Aussagen abpressen konnte. Uetersener Sozialdemokraten hätten eigene Widerstandsgruppen gebildet und sich dem kommunistischen Widerstand angeschlos-


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sen; Victor Andersen habe gemeinsam mit dem Uetersener Kommunisten Hans Britten Flugblätter und Zeitungen hergestellt; die dann in der Scheune eines Bauern gedruckt und überregional verteilt worden seien. Auf Basis dieser Unterlagen konnte ich eine Liste mit 71 Namen von Uetersenern erstellen, die im Nationalsozialismus verfolgt wurden.

Einmal fuhr ich mit Victor zum Liegeplatz seines Segelbootes. Er war noch im hohen Alter - trotz seiner verfolgungsbedingten gesundheitlichen Beeinträchtigungen - begeisterter Segler. Hier, an der Pinnau und auf dem Elbdeich erzählte er mir von den zahlreichen illegalen Treffen der Widerständler 1933 und 1934. Er berichtete von dem alten Uetersener Polizeihauptwachtmeister Lüdemann, der 1918 dem Soldatenrat in Hamburg angehört, 1920 beim Kapp-Putsch in Uetersen den Generalstreik organisiert und bis zu seiner Pensionierung 1932 immer beide Augen zugedrückt habe, wenn zum Beispiel Kommunisten Wahlparolen auf die Straße oder an Häuserwände gemalt hatten. 1933 und 1934 habe sich Wilhelm Lüdemann am Widerstand beteiligt und zum Beispiel mit seinem Segelboot Widerständler aus Elmshorn, Barmstedt und Uetersen zu einem konspirativen Treffen zur Elbinsel Pagensand gebracht. Ohnehin, so Victor Andersen, seien viele Treffen auf dem Uetersener Friedhof, am Deich der Pinnau, auf Segelbooten und auf Pagensand durchgeführt worden, um die illegale politische Arbeit zu koordinieren.

Ende 1934 nahm die Gestapo Massenverhaftungen in Uetersen, Elmshorn, Barmstedt und anderen Orten im Kreis Pinneberg vor; neben Victor Andersen wurde auch Wilhelm Lüdemann verhaftet. Josef Kristen berichtete mir, er habe im "KolaFu" in seiner Funktion als Essenholer Wilhelm Lüdemann 1935 in Einzelhaft und "in Eisen" (d. h. gefesselt) gesehen. In einem günstigen Augenblick sei er an die Tür getreten und habe ihm zugeflüstert: "Wilhelm, Du hast an der Besprechung in Pagensand nicht teilgenommen, Du hast nur das Boot zur Verfügung gestellt!" Tatsächlich wurde Wilhelm Lüdemann nach vierzehn Tagen aus dem Konzentrationslager entlassen, weil die Gestapo ihm nichts nachweisen konnte. Dagegen wurden Victor Andersen zu vier Jahren und Josef Kristen zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt; während des Krieges kamen beide "wehrunwürdigen" Vorbestraften in das Bewährungsbataillon 999.

Mit Freunden unternahm ich 1983 eine "antifaschistische Fahrradfahrt" von Hamburg durch den Kreis Pinneberg nach Amsterdam. In Uetersen zeigten Victor Andersen und Josef Kristen uns Stätten ihres Widerstandes und ihrer Verfolgung. Als er hörte, daß die Fahrt auch durch das Emsland gehen sollte, erklärte sich Victor spontan bereit, uns das ehemalige KZ Esterwegen und das Strafgefangenenlager Aschendorfer Moor zu zeigen. Im Konzentrationslager hatte ihn die Gestapo vor seiner Verurteilung zu Zuchthaus untergebracht; Victor erinnerte sich noch gut an seine Begegnung mit Carl von Ossietzky in diesem Lager. Nach seiner Verurteilung durch das Berliner Kammergericht habe er im Zuchthaus Rendsburg und dem Strafgefangenenlager die Freiheitsstrafe verbüßt. Seine Freilassung 1939 habe er wohl dem Chef der Maschinenfabrik Hatlapa aus Uetersen zu verdanken ge-


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habt, in der er Maschinenbauer lernte. Der habe sich für seine Freilassung mit dem Argument eingesetzt, die Fabrik würde diese qualifizierte Arbeitskraft dringend benötigen. Die Fabrik habe ihn nach Haftentlassung sofort eingestellt und bis zur Einberufung zum Kriegsdienst im berüchtigten "Bewährungsbataillon 999" beschäftigt.

Zu den letzten Treffen mit Victor Andersen gehörte einer Veranstaltung der KZ-Gedenkstätte Neuengamme. Er war Gast im Rahmen eines "Sonntagsgesprächs" und werde, so die Ankündigung, über seine Tätigkeit im Reichsbanner und als Schutzformationsführer von Uetersen vor 1933 sowie den gemeinsamen Widerstand von Sozialdemokraten und Kommunisten 1933/34 berichten.

Im Raum waren zahlreiche Angehörige des Hamburger "Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold" anwesend, die Victor offensichtlich examinieren, seine Glaubwürdigkeit erschüttern wollten; zu sehr widersprach der angekündigte Inhalt des Vortrages deren Erfahrungen und Weltbild. Doch sehr schnell konnte Victor Andersen, der vom Hamburger Reichsbanner in konspirativer Arbeit geschult worden war, das Eis durch sein Insiderwissen brechen. Zumindest seine Kritik an der kampflosen, schrittweisen Preisgabe der Republik 1932 und 1933 wurde von allen Zuhörern geteilt.

Bei solchen Veranstaltungen hatte er immer Originalbriefe seines Vaters aus dem KZ Neuengamme an die Familie bei sich, die er herumreichte. Victor Andersens Vater, ehemals Gewerkschaftsvorsitzender von Uetersen, war bereits am 2. Mai 1933 verhaftet und in das KZ Glückstadt verschleppt worden und wurde gegen Kriegsende Häftling des KZ Neuengamme. Er hatte mit viel Glück das Lager überlebt, während sein bester Freund, der ehemalige kommunistische Uetersener Stadtverordnete Hans Britten, im KZ Neuengamme ums Leben gekommen war. Auch dessen Bild hatte Victor häufig bei sich, um es herumzuzeigen. Die KZ-Gedenkstätte solle später einmal diese Dokumente zur Erinnerung und Mahnung erhalten.

Nach Kriegsende wurde Victor Andersen Kreisjugendpfleger und Sportreferent des Kreises Pinneberg. Sein Engagement für den Sport hatte Tradition - er sei schon vor 1933 begeisterter Sportler gewesen und habe 1925 gemeinsam mit Josef Kristen an einer Arbeiterolympiade in Frankfurt teilgenommen, berichtete er mir. Dieses jahrelange Training habe seinen Körper fit gemacht, die Torturen der Verfolgung durchzustehen.

Ich erlebte in Victor Andersen einen äußerst freundlichen und zugleich bescheidenen Menschen, der mit jeder Faser seines Körpers Antifaschist, Demokrat, Republikaner war. Aus innerster Überzeugung trat er vor Schulklassen, um am Beispiel seiner persönlichen Erfahrungen vor neuen Gefahren wie Ausländerfeindlichkeit und Neofaschismus zu warnen. Genauso nahm er an Gedenkveranstaltungen für die Opfer des Nationalsozialismus teil; er engagierte sich in der VVN.

Noch wenige Tage vor seinem Tod war Victor Gast mehrerer Gedenkveranstaltungen zum 50. Jahrestag des Kriegsendes und - für ihn im wahrsten Sinne des Wortes - der Befreiung: Vergeßt nicht die Lehren der Nazi-Herrschaft! Victor Andersen: "Am Tage meiner Befreiung aus dem KZ habe ich


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mir geschworen, dafür zu sorgen, daß so etwas nie wieder passieren kann." In diesem Sinne ist tatsächlich ein "lebendes Mahnmal" gestorben; ich freue mich, daß ich Victor Andersen kennenlernen und viele Stunden mit ihm zusammensein konnte, und bedaure, daß jüngere Generationen jetzt keine Möglichkeit mehr haben, diese hervorragende Persönlichkeit und durch sie lebendigen Geschichtsunterricht zu erleben.


Veröffentlicht in den Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte (Kiel) Heft 28 (Dezember 1995) S. 71-74.


Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte Heft 28

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