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Kay Dohnke

"Der Erste und der Letzte"

Anmerkungen zum NSDAP-Agitator Hermann Oeser

1. "Versammlungswelle" und "Trommelfeuer": nationalsozialistische Agitation in Norddeutschland

Zur Erklärung des nahezu beispiellosen Rückhaltes, auf den die NSDAP schon lange vor 1933 in der schleswig-holsteinischen und darüber hinaus norddeutschen Öffentlichkeit stieß, sind immer wieder spezifische wirtschaftliche, historische und soziale Dispositionen angeführt worden. Viel zu geringe Beachtung fand aber ein Element, das in nahezu allen einschlägigen Quellen [1] ab spätestens 1929 nachweisbar ist: die immense Agitationstätigkeit, die in ihrer Intensität unbedingt ein nationalsozialistisches Spezifikum darstellt, denn keine der damaligen Parteien betrieb eine vergleichbar aufwendige und zugleich wirkungsvolle Werbe- und "Überzeugungs"arbeit in der Bevölkerung.

Schon aus frühen Dokumenten der Parteigeschichte [2] geht der große Stellenwert hervor, welcher den Strategien der Öffentlichkeitsarbeit zugemessen wurde; allerdings rangierten Druckschriften - Erstellung von Propagandamaterial bzw. Aufbau einer eigenen NS-Presse - vor der praktischen Agitation, ließ sich jene doch schon mit simpelster Logistik, vergleichsweise geringeren Kosten und dementsprechend reduziertem zentralen Organisationsaufwand realisieren. In seiner Wirkung für die Gewinnung öffentlicher Sympathie muß das gesprochene Wort jedoch als äußerst effektives Propagandamittel des Nationalsozialismus eingeschätzt werden.

Für Schleswig-Holstein läßt sich spätestens mit Beginn des Jahres 1929 eine deutliche Zunahme von NS-Agitationsveranstaltungen feststellen. [3] Bei der Reichstagswahl im Mai 1928 hatte die NSDAP in verschiedenen Kreisen des Landes unerwartet hohe Stimmgewinne erzielt. [4] Diese Erfolge galt es durch systematische Agitation mittelfristig zu stabilisieren, damit Spontanwähler zum Parteibeitritt bewegt werden konnten. Die Resultate solcher Bemühungen lassen sich u.a. an den zahlreichen Neugründungen von Ortsgruppen ablesen. [5]

Aber noch eine weitere spezifisch norddeutsche Konstellation des politischen bzw. wirtschaftlichen Lebens veranlaßte die NSDAP zu verstärkter Agitationstätigkeit: aufgrund der sich rapide verschlechternden Situation der Landwirtschaft war Ende 1928 ein großes Protestpotential entstanden; Bauern, die angesichts hoher Schuldenlasten und drastischer Preiseinbrüche mit dem Verlust ihres Besitzes bzw. ihrer Arbeitsplätze rechnen mußten, wurden häufig von Agitatoren teils diffuser politischer Richtung zu aktivem Widerstand gegen Regierungsstellen wie etwa Amtsvorsteher, Landräte, Finanzämter aufgerufen. Zu den Sprechern dieser sog. Landvolkbewegung traten die Redner der NSDAP in Konkurrenz, da für sie die Bevölkerung des ländlichen Schleswig-Holstein ebenfalls als wichtigste Zielgruppe galt, deren wachsende Bereitschaft zu politischen Veränderungen für die Unterstütz-


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ung der eigenen Ziele genutzt werden sollte. [6]

Anfangs stand der Intensivierung der NS-Propaganda jedoch ein Mangel an geeigneten Rednern entgegen; im großstädtischen Einsatz erprobte Personen und Agitationsstrategien, so ließ sich vermuten, waren nicht unbedingt für die veränderten Anforderungen in Schleswig-Holstein zu übernehmen. Bereits im Herbst 1928 hatte der Gauleiter von Oberbayern-Schwaben, Fritz Reinhardt, in einem Rundschreiben auf dieses Manko hingewiesen:

"Die Zahl solcher Parteigenossen, die geeignet sind, in öffentlichen Versammlungen und Sprechabenden als Nationalsozialistische Redner oder Sprecher zu wirken, ist viel zu klein. Die gegenwärtig vorhandenen Redner sind fast alle geeignet, in großen Versammlungen, in Großstädten und mittleren Städten, zu wirken. Es fehlt an Rednern für Versammlungen in Kleinstädten und in Dörfern. [...] Es ist erforderlich, daß geeignete Parteigenossen zu Nationalsozialistischen Sprechern und Rednern herangebildet werden, die dann bestimmt werden können, je nach ihrer berufsfreien Zeit und ihren persönlichen Verhältnissen, in Sprechabenden und Versammlungen in Dörfern und kleinen Städten zu wirken." [7]

In Schleswig-Holstein verfügte die NSDAP über einen Stamm von Rednern, der sich vorrangig aus den aktivsten der frühen Parteimitglieder zusammensetzte. Während der später verklärend als "Kampfzeit" bezeichneten Aufstiegsphase der NSDAP gehörte es für alle Amtsinhaber zu den selbstverständlichen Verpflichtungen, intensive Propaganda zu betreiben und die Partei öffentlich zu repräsentieren. Neben dem Gauleiter Hinrich Lohse zählten anfangs die dithmarscher Bauern Hans Beeck aus Spersdick und Martin Matthiessen aus Meldorf, der Eutiner Anwalt Heinrich Böhmcker, der Reichstagsabgeordnete Joachim Meyer-Quade, der Schmiedemeister Hans Kummerfeldt aus Nordhastedt und der Itzehoer Fabrikant und zeitweilige Gaukulturleiter Paul Schneider zu den bekannten Rednern [8], im Rahmen größerer Propagandaaktionen gelegentlich durch den Borkumer Pastor Ludwig Münchmeyer, den Präsidenten des preußischen Landtags Hans Kerrl,den Bauern Jan Blankemeyer aus dem Bremer Raum und andere unterstützt. Hin und wieder traten auch Spitzen der Parteiprominenz wie Gregor Strasser, Joseph Goebbels oder Erich Koch auf.

Zur Effektivitätssteigerung solcher Öffentlichkeitsarbeit schlug Heinrich Himmler seitens der Münchener Propaganda-Abteilung Ende 1928 vor, "von Zeit zu Zeit für jedes Gebiet Deutschlands eine wohlvorbereitete, das Maß der sonstigen Propaganda-Anstrengungen überschreitende Tätigkeit" zu organisieren. Mit einer "Konzentration von 70 bis 200 Versammlungen in einem Gau im Zeitraum von 7 - 10 Tagen" müsse "die Bevölkerung einer Provinz gleichmäßig auf uns aufmerksam gemacht" werden. Solche Propaganda-Aktionen seien durch geeignete Werbemaßnahmen für SA, Hitler-Jugend und Parteipresse zu begleiten. [9]

Mehrmals fanden auch in Schleswig-Holstein sogenannte "Versammlungswellen" statt, die sich meist an aktuellen politischen Ereignissen orientierten: die Gauleitung in Altona nutzte beispielsweise die Protestbereitschaft der Bevölkerung gegen die Reparationsverträge des Ersten Weltkrieges - über den sog. Young-Plan wurde im November 1929


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[Abb.1: Schleswig-Holsteinische Tageszeitung 2.3.1932]


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ein Volksbegehren durchgeführt - und gab sich in den weit über hundert Veranstaltungen der NSDAP als Vorreiter bzw. Wortführer dieser "berechtigten" breiten Ablehnung aus. Die beteiligten Redner waren mit zentral ausgearbeiteten Unterlagen sorgfältig für ihre Auftritte vorbereitet worden.

"Für die NSDAP hatte die Versammlungswelle einen großen Wert, da weitere Teile der Bevölkerung politisch angesprochen werden konnten, die unter normalen Verhältnissen nicht in unseren Versammlungen erschienen wären" [10] beschrieb der Süderdithmarscher Kreisleiter Martin Matthiessen den Effekt. Ungeachtet des scheiternden Volksbegehrens hatten die zahlreichen Kundgebungen hinsichtlich der zeitgleich durchgeführten Kommunalwahlen Werbung für die NSDAP bedeutet.

Auch für die im Jahr 1932 stattfindenden Reichspräsidenten- bzw. Reichstagswahlen - die aufgrund von Regierungsrücktritten mit nachfolgenden Parlamentsauflösungen mehrfach abgehalten werden mußten - veranstaltete die NSDAP Schleswig-Holsteins große Propagandakampagnen, deren Bezeichnungen wie etwa "Trommelfeuer" auf die Aggressivität des Auftretens und die Vehemenz der vertretenen Positionen hindeuten. Die Parteipresse kündigte die Aktionen folgendermaßen an:

"Abend für Abend werden 3000 Versammlungen abgehalten. Millionen Flugblätter, Broschüren und Zeitungssonderdrucke gehen ins Volk. Es wird gehämmert! Eine Wahlschlacht wird geschlagen, wie sie die Weltgeschichte nicht gesehen. [...] In diesem Endkampf stellt sich die Nordmark an die Spitze. Vom Gauleiter bis herab zum letzten Gauredner stehen die Sendboten des Nationalsozialismus Abend für Abend in überfüllten Sälen vor der schleswig-holsteinischen Bevölkerung. [...] Die Schlagkraft der Parteiorganisation ist aufs höchste gesteigert!" [11]

Unabhängig von aktuellen Propaganda-Anlässen differenzierte sich die Art nationalsozialistischer Agitation je nach Zielgruppe, Ort der Veranstaltung und Organisationsgrad der Beteiligten aus, was häufig am Rahmenprogramm der Aktionen ersichtlich war. Regelmäßig führten Ortsgruppen der Partei öffentliche Sprechabende durch, auf denen nach einem Vortrag aktuelle Ereignisse diskutiert werden und die Mitglieder ihren hohen politischen Kenntnisstand beweisen konnten. Gelegentlich wurde mit dem relativ modernen Medium der Filmvorführung die Neugier des Publikums geweckt.

An breitere Bevölkerungskreise richteten sich sog. Deutsche Tage bzw. Deutsche Abende: hier spielte der Populismus eine wichtige Rolle, d. h. Agitationsreden kam neben Unterhaltung, Konzerten, Kindervergnügen oder kulturellen Darbietungen (Volkstanz, Lieder, Rezitationen) eher eine Randrolle zu.

Propagandaumzüge und -ausfahrten der SA waren öffentliche Zurschaustellungen von Stärke, Schlagkraft und hohem Organisationsgrad der Sturmabteilungen. Neben der Werbung unter jungen Männern dienten sie auch dem politischen "Gegner" als Signal für Entschlossenheit und Kampfbereitschaft, ja sie wurden oftmals zum Zwecke der Provokation durchgeführt und unterlagen vor 1933 zeitweise der Genehmigungspflicht. Agitatorische Ansprachen bildeten feste Bestandteile solcher Aktionen.

Als spezifischer NS-Veranstaltungstyp ist schließlich noch die Ständekund-


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[Abb. 2 (oben): Schleswig-Holsteinische Tageszeitung 8.1.1933]
[Abb. 3 (rechts): Heider Anzeiger 18.6.1931]

gebung zu nennen: hier traten stets Repräsentanten unterschiedlicher Berufe und Klassen auf, etwa "Arbeiter, Handwerker und Bauer". In den begleitenden Reden wurde außer aktuellen Bezügen auch - analog der NS-Sicht - der organische Charakter des "deutschen Volkskörpers" propagiert. [12] Generell war die notwendige Logistik für Agitationsveranstaltungen - LKW zum Transport der SA-Männer, Film- und Diaprojektoren samt Bildmaterial, Lautsprecheranlagen - durch die Gaupropagandaleitung funktional organisiert.

Bei dieser Altonaer Parteistelle konnten auch je nach speziellem Zweck geeignete Redner angefordert werden. Bald hatten sich nämlich innerhalb der Agitatorenszene deutliche Unterschiede hinsichtlich des Redetalentes, der Argumentationsstrategien und der Popularität abgezeichnet: während etwa Hinrich Lohse anfangs als Gauleiter eher zu Repräsentationszwecken auftrat, spezialisierte sich Paul Schneider stärker auf weltanschauliche Fragen im Grenzbereich zu Religion und Philosophie. Ludwig Münchmeyer stachelte mit antisemitischen Haßtiraden das Publikum auf, und die aus der Arbeiterschaft bzw. dem Handwerk stammenden Agitatoren fanden aufgrund ihrer beruflichen wie sozialen Nähe zum Proletariat vor allem in den größeren Orten gute Resonanz.

Zu den populärsten Rednern auf ländlichen Agitationsveranstaltungen zählten vor allem zwei Männer: der Schmiedemeister Hans Kummerfeldt aus Nordhastedt und der aus Dithmarschen stammende Apotheker Hermann Oeser. Beide hatten die Verwendung der plattdeutschen Sprache zu ihrem "Markenzeichen" gemacht, was nicht nur in der Provinz auf begeisterten Zuspruch stieß.

Generell ist über Biographie und politischen Werdegang der NS-Agitatoren nur wenig bekannt, obgleich ihre Betätigung und besonders die erzielte öffentliche Resonanz erst aus dem konkreten persönlichen Zusammenhang heraus erklärt werden können. Kummerfeldts Wirken ist bereits näher beschrieben worden [13]; da sich inzwischen für Hermann Oeser die Quellenlage [14] erheblich verbessert hat und seine Funktion in der NS-Agitation deutlicher erkennbar wird, sollen hier sein persönlicher Hintergrund, seine Rolle und seine individuelle Strategie als NS-Agitator ausführlicher dargestellt werden.


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2. "Ringen für mein Vaterland": zur ideologischen Sozialisation Hermann Oesers

Hermann Friedrich Oeser wurde am 3. Mai 1899 in Theeberg bei Eddelak/ Dithmarschen als ältestes von sieben Kindern geboren. Sein Vater Carl Heinrich Oeser war Kaufmann und Gastwirt, für die Mutter Margaretha Helene geborene Hennings weisen die Quellen [15] erwartungsgemäß keinen Beruf nach. Von 1906 bis 1908 besuchte der Junge die Eddelaker Grundschule. Der zu Ostern 1909 erfolgende Wechsel auf eine weiterführende Schule - das Kaiser-Karl-Realgymnasium in Itzehoe - wurde später von ihm selbst in einem fragmentarischen Lebensabriß zur Stilisierung seiner persönlichen Entschlußfreudigkeit verklärt dargestellt:

"Nachdem er" - Oeser spricht von sich in der dritten Person! - "2 Jahre die Dorfschule besucht hatte, erschien der Pastor bei seinen Eltern um zu veranlassen, dass der Junge auf die höhere Schule nach Itzehoe geschickt würde. Scheinbar schien der Vater damit garnicht einverstanden. Doch da erwachte wohl zum ersten Mal in dem Jungen der eigene Wille, denn nach bestandener Prüfung stellte dieser kl. Mann seine Eltern vor die vollendete Tatsache, dass er sich selbst in der Dorfschule abgemeldet hätte. Da blieb dem Vater nichts anderes übrig, als nach Itzehoe zu fahren und seinen Ältesten in der Kaiser Karl Schule anzumelden. Hatte doch da das Kind ihm schon bewiesen, dass es eher selbst handelte, als sich von einer Idee abbringen zu lassen." [16]

Ungeachtet der höheren Schulbildung, die Hermann Oeser während der folgenden 8¼ Jahre erhielt, dürfte sich sein Leben kaum in intellektuellen Kreisen abgespielt haben. Für das Elternhaus ist von einem kleinbürgerlichen Horizont auszugehen, der wohl weitgehend der ländlich geprägten Lebenswelt Süderdithmarschens entsprochen haben dürfte, da Carl Oesers sozialer Status als Gewerbetreibender ihn und damit die Familie äußerlich nur geringfügig von der landwirtschaftlich tätigen Bevölkerungsmehrheit unterschied. Die in Elternhaus und Dorf allgemein verwendete Sprache war das Plattdeutsche, was für den Jungen die Distanz seines Umfeldes zur höheren Schule in Itzehoe noch vergrößert haben muß.

Hermann Oeser hat weder in Briefen noch in autobiographischen Notizen nähere Einzelheiten aus Kindheit oder Jugend überliefert, die als Koordinaten seines geistig-moralischen Umfeldes dienen könnten; allenfalls finden sich pauschale und undifferenzierte Resümees ("Meine Jugendzeit war nur Sonne." [17]; "diese glückliche Kinderzeit" [18]). Doch gerade das Fehlen eingehenderer Informationen deutet in diesem speziellen Fall an, daß keine Abweichung von den "normalen" provinziellen Lebensverhältnissen anzunehmen ist, da Oeser retrospektiv stets jene Differenzkriterien besonders hervorhebt, die seine Biographie als etwas besonderes erscheinen lassen können.

Maßgebliche ideologische Orientierung des Heranwachsenden Hermann Oeser war ein starker Patriotismus bzw. Nationalismus, dessen Wirkung er selbst pathetisch überhöht beschreibt. "Am politischen Himmel zogen sich dunkle Wolken heran und am 2. August 1914 erlebte Herrmann Oeser als Obertertianer


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[Abb. 4: "Zum Andenken an meinen Auszug ins Feld" - Hermann Oeser am 26. Januar 1918 in Neubreisach]


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den Ausbruch des grossen Weltkrieges. Ausgelöscht mit einem Mal waren die Kinderträume. Etwas Grosses Heiliges was das Kind bisher nur mit wissenden Sinnen in den Geschichtsstunden in sich aufgenommen hatte, war mit einem Mal Wirklichkeit geworden. Das Vaterland rief seine Männer hinab bis zum Jüngling, auf zu den Waffen zu greifen, um deutsche Ehre und deutsches Recht zu verteidigen. Da wuchs in der Seele Herrmann Oesers immer mehr der Begriff ["]Vaterland" mit seiner ganzen Grösse und Heiligkeit. Das Geschick Deutschlands griff auch in diese Kinderseele und reifte sie weit über das Alter hinaus. Klein, viel zu klein im Geschehen des grossen Krieges kamen dem Jungen die Pflichten der Schule vor. [...] Erlebte er doch wie seine älteren Kameraden sich freiwillig dem Vaterland zur Verfügung stellten, war doch auch sein Sehnen hinzueilen zu der Fahne, die für Millionen Männer draussen an der


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Front das Vaterland bedeutete." [19]

Der Vater verwehrte seinem Sohn, sich vorzeitig zum Kriegsdienst zu melden, was ohnehin hätte scheitern müssen, da jener noch nicht das dafür nötige Alter hatte ("In verbissenem Trotz ging Herrmann Oeser weiter zur Schule, doch ein Gedanke hatte nur Raum in seinem Sein. "Ich muss mitkämpfen und ringen für mein Vaterland"." [20]). Der Halbwüchsige engagierte sich stark bei Rohstoffsammlungen und wurde 1915 Mitglied der "Jugendwehr Eddelak". Welcher Geist in dieser paramilitärischen Gruppe geherrscht hat, verdeutlicht eine Feldpostkarte ihres zwischenzeitlich eingezogenen "Führers" Tiedemann an Hermann Oeser vom 10. Dezember des Jahres: "Ich denke noch offt [!] mit Freuden an Euch allen zurück und rufe Euch von dieser Stelle nochmals zu, übt weiter, werdet deutsche Männer das Vaterland gebraucht jetzt ganze Männer. Ich werde es hier so recht gewahr, ob der Soldat gut ausgebildet ist oder nicht; darum haltet Euch ran, Ihr werdet wohl noch alle gebraucht." [21]

Im Frühjahr 1917 bemühte sich Oeser um baldigen Antritt seines Militärdienstes. Am 17. März erteilte ihm die Prüfungskommission für Einjährig-Freiwillige in Schleswig den Berechtigungsschein für diesen Dienst, aber er besuchte noch bis zum Juni des Jahres das Itzehoer Realgymnasium. Das später ausgestellte Reifezeugnis [22] wies in allen Fächern ein "Genügend" auf; lediglich seine Leistungen in Mathematik wurden mit "Gut", die im Freihandzeichnen dafür aber mit "Mangelhaft" bewertet.

Mitte Juni fuhr Hermann Oeser zusammen mit anderen Rekruten nach Neubreisach, um dort als Angehöriger des Ersatz-Bataillons des Fußartillerie-Regiments 20 (Altona-Bahrenfeld) ausgebildet zu werden. Dieser erste große Wandel seines Lebens bedeutete für den Achtzehnjährigen auch mental einen wesentlichen Einschnitt. In dem bereits zitierten autobiographischen Abriß heißt es:

"Sofort ging es zur Kaserne, und bald darauf wurde aus dem Schüler Herrmann Oeser ein junger feldgrauer Soldat, der voll heißer Liebe zu seinem Vaterland bereit war sein junges Leben einzusetzen in diesem grossen Ringen. Weggewischt war nun auch die äussere Hülle, Schulter an Schulter standen die jungen kriegsfreiwilligen Feldgrauen aus allen Städten Deutschlands, und wurden durch eine harte Schule vorbereitet für den schweren Kampf draussen an der Front. Dort wurde aus dem Schüler der Kaiser Karl Schule ein vollkommen anderer mensch [!]". [23]

Gleichrangig mit der Beschreibung konkreter Ereignisse und Vorgänge tritt in diesem Text ganz unmittelbar die psychologische Dimension des Oeserschen Selbstverständnisses an die Oberfläche: die vorbehaltlose Bereitschaft zur Unterordnung, ja zu regelrechter Ich-Aufgabe. Es bedarf nur einer kurzen Metamorphose, und der junge Mann gibt freiwillig jegliche individuelle Vorprägung auf. Symbolisch entledigt er sich zusammen mit der Kleidung auch seiner Identität. Man gewinnt den Eindruck, als beginne erst jetzt seine eigentliche Existenz und als habe sich Hermann Oeser vorher nie recht wohlgefühlt. [24] Die hier deutlich zu beobachtende Tendenz zur vollständigen Eingliederung in eine Gruppe bzw. Organisation sollte auch sein späteres politisches Verhalten prägen.

Oesers Teilnahme am Krieg hatte eine immense psychische Wirkung auf den jungen Mann. Aus späterer Sicht verortete er in diesem vergleichsweise kurzen Abschnitt seiner Biographie jene prägenden Erlebnisse, die er immer wieder im Rahmen seiner politischen Arbeit ansprechen würde, ja die zum eigentlichen Movens für diese Betätigung werden sollte: die Initiation als Deutscher, der seine Existenz einer höheren Idee unterordnet. Angelpunkt ist die Rekrutenausbildung: "Hier in der Vorbereitung zu dem grossen Geschehen draussen andder [!] Front einte das gemeinsame Schicksal die jungen Leute, ob arm ob reich zuneiner [!] grossen Kameradschaft. Weggefallen waren die Schranken der verschiedenartigen Erziehung, der ärmste Sohn des Volkes stand gleich stolz neben dem Schüler der Hochschule in der schlichten feldgrauen Uniform, floss doch durch alle Adern das gleiche deutsche Blut, der gleiche Gedanke, ihrem Vaterland zu dienen. Das gemeinsame Schicksal schmiedete [d]ie grosse Kameradschaft. Dieses Wunder erlebte Herrmann Oeser mit seinem jungen Herzen und barg es in sich als grösstes Heiligtum, um so noch gereifter hinauszuziehen in die Schlacht." [25]

Ist einerseits das Pathos dieser Darstellung Indiz für die mentale Verfassung Oesers beim späteren Niederschreiben der Erinnerungen, liefert der Text doch auch einen sachlicheren Anhaltspunkt, der zur Erklärung der Disposition des Rekruten beitragen könnte: das Stichwort lautet "Schranken der verschiedenartigen Erziehung". Hierin mag für den Heranwachsenden, der außerhalb des Heimatdorfes und des traditionellen Kulturkreises eine höhere Schule besuchte, die Quelle für ein Gefühl der Entfremdung bestanden haben, ein Mangel an bewußt und positiv empfundener Identität. Geht man von dieser These aus, wird plausibel, weshalb dem Wehrdienst eine so bedeutende Rolle zukommen mußte: Oeser konnte hier jenen simplifizierenden Nationalismus, jene naive Vorstellung von einem "Volk" ohne Klassenstrukturen real in seinen Erfahrungs- und damit Empfindungshorizont integrieren, die ihm offenbar schon seit frühester Kindheit unablässig eingeredet worden waren. [26]

Hermann Oeser wurde am 4. Januar 1919 aus dem militärischen Dienst entlassen, nachdem er Ende 1917 zum Gefreiten befördert worden war. Nur drei Monate später, am 1. April, trat er in der Löwen-Apotheke in Heide eine


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[Abb. 5: "Das gemeinsame Schicksal schmiedete [d]ie grosse Kameradschaft." Blinkerkursus im Westerlager, 6. - 27. Mai 1918 (Oeser mittlere Reihe 3. v. l.]

pharmazeutische Lehre an, die er am 31. März 1921 erfolgreich beendete. Vorübergehend arbeitete Oeser dann in Apotheken in Burg/Dithmarschen bzw. in Harburg, nahm aber zu Beginn des Sommersemesters 1921 ein Studium an der Universität Marburg auf, wo er auch Mitglied der Verbindung Rheinfranken wurde. Im Mai 1922 verlobte er sich mit Grete Peters aus Westerbüttel bei Eddelak. [27]

Das Sommersemester 1923 verbrachte er an der Technischen Hochschule Braunschweig und legte dort auch am 31. Juli sein Examen ab. Oeser erhielt in der pharmazeutischen Prüfung die Gesamtnote "Genügend". [28]

Von Oktober 1923 bis März 1925 war Hermann Oeser in der Schleswiger Hofapotheke beschäftigt, woran sich eine Assistententätigkeit in der Adler-Apotheke Harburg anschloß. Im Dezember 1930 wurde ihm aufgrund externer Anlässe gekündigt. [29] Zwischen Februar 1931 und Juni 1934 verwaltete Oeser die Elisabeth-Apotheke in Albersdorf/ Dithmarschen. Im Frühjahr 1933 wurde er Leiter des Bezirks Westküste der Standesgemeinschaft Deutscher Apotheker.

Ungewöhnlich früh erhielt Hermann Oeser bereits im Mai 1934 eine Konzessionsberechtigung [30], mit deren Legitimation er sich schon einen Monat später in Hamburg-Veddel selbständig machte. Dieses Geschäft betrieb er trotz häufiger Ortsabwesenheit bis zu seiner Festnahme durch britische Soldaten im Mai 1945. Im Dezember 1936 erhielt er "nach Anhörung der Deutschen Arbeitsfront, Gau Hamburg, Sozialabteilung, als Führer eines Betriebes" [31] die Be-


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[Abb. 6: Einweihung von Oesers Apotheke in Hamburg-Veddel, 28. Juni 1934]

rufung in den Beirat der Allgemeinen Ortskrankenkasse Hamburg. Am 15. Dezember 1940 errang Oeser zu seinem besonderen Stolz das "Leistungsabzeichen Vorbildlicher Kleinbetrieb Apotheke". [32]

3. "Die Fahne Adolf Hitlers in die Hand genommen": Hermann Oesers parteipolitische Karriere

Oesers beruflicher Werdegang verriet Zielstrebigkeit und Einsatzbereitschaft. Offenbar absolvierte der junge Mann unhinterfragt die vorgeschriebenen Stufen der pharmazeutischen Ausbildung. Weit unkonventioneller hingegen verlief seine politische Entwicklung. Ausgangspunkt der Rekonstruktion ist auch hier Oesers Wiedereintritt ins Zivilleben. Die Niederlage Deutschlands empfand er - nach der Begeisterung anläßlich des Dienstantrittes 1917 - als zweiten Wendepunkt seiner Biographie: "Furchtbar war das Ende. Als ich vom Bahnhof kam, und der alte Großvater [...] mir sagte, Hermann, was habt ihr aus unserm schönen Deutschland gemacht. In dieser Stunde entschied sich mein Schicksal. Ich wurde politischer Soldat. Ich wollte nicht einmal am Ende meines Lebens so vor dem Nichts stehn wie der alte Großvater." [33]

Wie der nationalstolze junge Oeser die damaligen politischen Veränderungen - Novemberrevolution, Ende des Kaiserreiches, die kurze Phase der Räterepublik und den Übergang zur Demokratie - empfand, ist nicht überliefert. Frühester direkter (Nachlaß)Beleg für seine politische Richtungsentscheidung ist das mit einem aufgemalten Hakenkreuz versehene Skript eines "Eingesandt" an die Burger Zeitung vom Juni 1921, überschrieben Regierung Wirth-Rathenau an den Pranger!, in welchem er im Zusammenhang mit einem Gerichtsprozeß über Fragen der Kriegsschuld der Reichsregierung unterstellt, sie würde zur Vertuschung der Wahrheit bewußt Unschuldige opfern. Der Leserbrief mündet in die Forderung nach sofortigem Rücktritt der Regierung - dann sei Deutschlands Ansehen gerettet. "Einem auch in der Not ehrliebenden und bis zum Äußersten entschlossenen Volke wird die Welt die Achtung wieder erweisen, die es ihm unter der jetzigen ehrlosen Judenregierung selbstverständlich versagt." Mit dem agitatorischen Aufruf "Deutsche macht Euch frei von der Judenknechtschaft" schließt der unterzeichnende "Kämpfer für deutsche Sitte" sein Pamphlet. 1934 sollte Oeser sich dieser Aktion rühmen und darauf hinweisen, daß ihn nur ein Amnestie-Erlaß vor Strafverfolgung wegen dieses Artikels geschützt habe. [34]

Dieses erste öffentliche politische Statement Oesers erfolgte nahezu zeitgleich mit seiner Aufnahme in die NSDAP, die ihn am 28. Juni 1921 unter der Nummer 3.021 als Mitglied registrierte. In seinen eigenen Worten klang dieser Akt weihevoller: "Unverstanden von allen habe ich damals, als alles verzweifelte, die Fahne Adolf Hitlers in die Hand genommen". Und immer wieder sollte Oeser auch später betonen, daß er "als erster Dithmarscher der roten Hakenkreuzfahne folgte." [35]

Oesers zweiter Parteieintritt - der nach Neugründung der NSDAP nötig wurde - fand am 12. Juli 1927 statt; jetzt wurde ihm die Mitgliedsnummer 10.226 zugeteilt (vgl. die Reproduktion aus seinem Parteibuch).

Oesers Aufstieg in der Partei Hitlers [36] erfolgte relativ rasch: zwischen 1927 und 1929 - genauere Daten waren bislang nicht zu ermitteln - hatte er das Amt des Ortsgruppenleiters in Harburg und ab dem 16. Oktober 1927 zugleich die ehrenamtliche Funktion des stellvertretenden Gauleiters für Ost-Hannover inne. [37] Ein privater Briefwechsel aus jener Zeit enthält Andeutungen, daß er im Frühjahr 1929 aus unbekanntem Grund alle politischen Ämter zumindest vorübergehend niederlegte und später offenbar aufgrund der politischen Betätigung Probleme mit seinem damaligen Arbeitgeber in der Harburger Adler-Apotheke hatte. [38]

In Hermann Oesers Nachlaß ist ein Dokument erhalten, das für den Herbst 1928 konkreten Einblick in sein ideologisches Denken und Handeln ermöglicht. Der Münchener Rechtsanwalt Hans Frank schreibt "Namens und im Auftrage des Herrn Apothekers Hermann Oeser " am 22. Oktober 1928 an den Bund deutscher Apotheker/Reichsfachgruppe des Gewerkschaftsbundes der Angestellten, um noch einmal die Position seines Mandanten zu verdeutlichen. Am 1. Oktober war nämlich an Oeser die Aufforderung ergangen, sofort den Verband zu verlassen, da aufgrund seines politischen Verhaltens "für ihn innerhalb der neutralen Gewerkschaft kein Platz sei".

In Franks Schriftsatz heißt es: "Sie machen Herrn Apotheker Hermann Oeser lediglich zum Vorwurf, dass er auf einige Briefumschläge seiner Korre-


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[Abb. 7: "Unverstanden von allen habe ich [...] die Fahne [...] Hitlers in die Hand genommen". Herausgetrennte erste Seite aus Hermann Oesers NSDAP-Mitgliedsbuch]


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spondenz Klebezettel anbrachte, die seine Ueberzeugung in Fragen des Rassenproblems dokumentieren, also eine Offenbarung seiner politischen Auffassung enthalten. [...]

Sie nennen sich Verband deutscher Apotheker. In diesem Begriff "deutsch" liegt nach immer unumstösslicherer und unwiderleglicher Lehre der Rassegedanke verankert, dahin, dass es eine Selbstverständlichkeit ist, den Begriff "deutsch" in seinem völkischen, d. h. im rassegeschichtlichen Sinne zu fassen.

Herr Apotheker Oeser steht mit einer immerhin verhältnismäßig grosser [!] Menge Deutscher auf diesem Standpunkte: Ein Jude kann nicht Deutscher sein, also auch nicht deutscher Apotheker, oder deutscher Staatsmann, schon deshalb nicht, weil das Judentum auch heute noch in seinem, den Gesamtcharakter Israels bewahrenden Teil rein völkisch jüdisch, d.i. nicht deutsch ist. Zwischen dem deutschen Volk und dem jüdischen Volk besteht keinerlei Verbindung. Zwischen dem Deutschen in Deutschland und dem Juden in Deutschland besteht zwar auf Grund einer längst wieder hinfälligen öffentlichen Regelung das Band der sogenannten gemeinsamen Staatsbürgerschaft, dies ändert aber nicht[s] an dem Umstand, dass die Juden auf der ganzen Erde, in welchem Lande sie immer sein mögen, ein einheitliches Volk sind, das mit dem deutschen, oder mit sonst irgend einem Volk nicht das Mindeste gemein hat, ebensowenig wie etwa das deutsche Volk etwas gemein hat, mit den Chinesen.

Wenn daher Herr Apotheker Oeser und die ihm gleichgesinnten Mitglieder Ihres Verbandes ihrer Rasseüberzeugung stolzen Ausdruck verleihen, so sollten Sie sich als Verband deutscher Apotheker darüber freuen nicht aber es solchen Mitgliedern verwehren, die Bewusstheit völkischer und rassischer Verwurzelung in ihrer klaren, aktuellen Erkenntnis in grossem Masse der unseligen Verwirrungstendenzen der Gegenwart politischer Ideologie entgegen zu stellen." Für den Fall von Ausschlußmaßnahmen, so der Anwalt, kündige Oeser schon jetzt rechtliche Schritte an, da er den geforderten Austritt aus dem Verbande keinesfalls freiwillig erklären werde. [39]

Ein klares Statement: Oeser vertrat einen krassen Antisemitismus und war davon überzeugt, daß sich seine Auffassung hinsichtlich der Rassentheorie allgemein durchsetzen würde. Indem er gegen den Ausschluß durch den Berufsfachverband anging, erwies er sich als streitbarer Zeitgenosse, der seine politische Überzeugung überall und jederzeit vertrat, also auch außerhalb direkter Parteizusammenhänge. Der weitere Verlauf dieser Angelegenheit ist nicht bekannt.

Zurück zu Oesers Laufbahn innerhalb der NSDAP: von 1929 bis 1930 fungierte er als Vorsitzender des Uschla (Untersuchungs- und Schlichtungsausschuß der Partei) für den Bereich Niederelbe, und am 17. Mai 1930 wurde er als Kreisleiter des Bezirkes Harburg-Land eingesetzt. "In sechs Monaten hielt er damals 120 (!) Versammlungen ab, trommelte unermüdlich und zog die Menschen herbei zu Hitlers Fahnen." [40] Zwei dieser Auftritte als Parteiredner - am 5. Juli in Helmsdorf und am 1. August in Heidenau - trugen ihm Klagen wegen Verstoßes gegen das Republikschutzgesetz [41] ein, welches die Beleidigung des Staates und seiner Repräsentanten unter Strafe stellte.


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[Abb. 8: SA-Ausweis Nr. 20 für Hermann Oeser]

Am 1. Juli 1932 erfolgte Oesers Beitritt zur SA, die ihn am 1. November jenes Jahres zum "Untergruppenapotheker" ernannte. Anfang Juni 1933 wurde er zum Sanitäts-Standartenführer befördert. Ab dem 1. Januar 1935 fungierte er zudem als Referent für nationalpolitische Schulung der SA-Gruppe Hansa und wurde zum 1. April ins aktive SA-Führerkorps überführt.

Aufgrund seines starken Engagements bei den jährlichen Sammlungsaktionen erhielt Oeser am 30. September 1936 die Berufung in den Beirat der Gauführung Hamburg für das Winterhilfswerk. [42] Ab dem 1. Oktober 1938 nahm er die Funktion eines Richters am Gaugericht Hamburg wahr. Am 30. Januar 1939 erreichte Hermann Oeser mit dem Rang eines SA-Oberführers schließlich die höchste Stufe seiner innerparteilichen Karriere. [43] Der zeitlichen Staffelung dieser Beförderungen bzw. Ernennungen [44] sollte später noch unerwartet politisches Gewicht beigemessen werden.

Wesentlicher politischer Betätigungsbereich Oesers war aber die unmittelbare Agitation im Rahmen von öffentlichen Veranstaltungen. Die erhaltenen Unterlagen und Dokumente weisen seine Stellung innerhalb der NS-Organisationsstruktur nach: am 20. März 1931 erhielt Oeser von der Gaupropagandaleitung Schleswig-Holstein seinen Ausweis als Gauredner. Eine solche Klassifizierung hatte sich schon früher als notwendig erwiesen: "Es durften nur Parteimitglieder sprechen, die mit einem Ausweis als Gauredner vorgesehen waren. Diese waren geprüft, um zu verhindern, daß Unsinn vorgetragen wurde." [45]

Daneben gab es noch die Funktion des überregionalen Reichsredners, die Oeser später ebenfalls innehatte.


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[Abb. 9: Gauredner-Ausweis Nr. 26 für Hermann Oeser vom 20. März 1931]

4. "Kampf um die Seele des deutschen Menschen": Hermann Oesers Rolle als Agitator

Hermann Oeser begann seine Tätigkeit als Propagandaredner der NSDAP vergleichsweise spät. Mit großer Akribie hat er die absolvierten Auftritte in einer Liste [46] verzeichnet, deren erster Eintrag unter dem 12. August 1928 eine Veranstaltung in St. Michaelisdonn nennt. Im Gegensatz zu anderen Aktivisten wie Hans Kummerfeldt, Ludwig Münchmeyer oder Paul Schneider führte Oeser diese Art der Öffentlichkeitsarbeit bis zum Mai 1930 nur sehr sporadisch weiter, sofern die Zwischenzeit mit nur vier verzeichneten Auftritten wirklich vollständig dokumentiert ist [47] - die anderen Propagandisten erreichten nämlich gerade im Jahr 1929 erste Höhepunkte ihrer Rednertätigkeit.

Mit Übernahme der Kreisleitung für Harburg-Land änderte sich aber auch für Oeser die Situation schlagartig: während eines längeren Zeitraums trat er ab Juli 1930 fast täglich in Dörfern und Kleinstädten des Harburger Umlandes bzw. des nördlichen Niedersachsen im Rahmen meist kleinerer Veranstaltungen auf, um im Vorfeld der Reichstagswahl vom 14. September für die NSDAP zu agitieren. Nur selten kamen mehr als 100 Zuhörer, meist lag die Teilnehmerzahl zwischen 40 und 60 Personen. [48]

Oesers Umzug ins schleswig-holsteinische Albersdorf blieb auf seine politische Arbeit ohne Einfluß: auch dort führte er die dichte Folge von Agitationsauftritten in zumeist kleineren Orten weiter [49], nur mit dem Unterschied, daß ihm jetzt der Ruf eines wirkungs-


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[Abb. 10: Redeauftritt im Rahmen des SA-Propagandamarsches am 13. Juli 1932 in Wilster (Oeser steht links auf einem LKW, siehe Kreuz)]

vollen Redners vorausging. Unter der Überschrift "Im Kirchspiel Albersdorf voran" meldete die Parteipresse im März 1931:

"Am 1. Februar erhielt die Ortsgruppe Albersdorf eine gute Kraft im dem Pg. Oeser, welcher von Harburg nach hier verzog. Die erste Versammlung stieg in Arkebek, guter Besuch, mehrere Aufnahmen. Acht Tage später in Immenstedt und nach weiteren 5 Tagen in Bunsoh, auch dort gutbesuchte Versammlungen und Erfolge. [...] Am 3. März sprach O. an einem Sprechabend der OG. Albersdorf vor ca. 180 Zuhörern Auch hier mehrere Aufnahmen und gute Kampfspenden. [...] Oeser spricht in plattdeutscher Mundart und weiß die Zuhörer zu fesseln, die dann auch nie mit dem Beifall kargten. In Kürze steigen weitere Versammlungen in Offenbüttel und Osterrade. - Auch im Albersdorfer Bezirk gehts wieder voran!" [50]

Was sich für Oesers Reden in Niedersachsen bisher nur vermuten läßt, ist für seine Einsätze in Schleswig-Holstein belegt: er bediente sich überwiegend des Plattdeutschen zur Vermittlung seiner Ideologie, was auf große Resonanz beim Publikum stieß. Hier wurde nicht abgehobene Polittheorie präsentiert, sondern es sprach jemand aus dem Volk: einfach, verständlich und überzeugend, zumal sich die Aggressivität nationalsozialistischer Agitation hervorragend mit den Potentialen des Niederdeutschen zu derb-drastischer Ausdrucksweise verbinden ließ. Auch Oesers Herkunft aus Dithmarschen verschaffte ihm einen Vertrauensbonus bei seinen Zuhörern - hier sprach kein "Zugereister", sondern jemand aus der eigenen Mitte.


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In dieser frühen Phase der Agitation war der NSDAP vorrangig daran gelegen, sowohl neue Mitglieder zu werben als auch künftige Wähler von ihrer Politik bzw. Ideologie zu überzeugen, denn die Partei war in großen Gebieten Schleswig-Holsteins noch längst nicht dauerhaft etabliert. In der täglichen politischen Auseinandersetzung stand sie zudem bis 1933 noch in Konkurrenz zu anderen Parteien, da die Machtverhältnisse gegen Ende der Weimarer Republik stark in Bewegung waren. Das bereits skizzierte Typenspektrum der Propagandaveranstaltungen sollte in dieser Situation möglichst breite Kreise der Bevölkerung ansprechen. Die plattdeutsche Mundartverwendung appellierte vor allem an regionale Identität und "Heimatbewußtsein". Um in diesem Effekt sicher zu gehen, wurde der Zusammenhang von Oeser meist noch einmal direkt betont: "Handelt nach dem Wort der dithmarscher Bauern in der Bökelnborg: 'Röhrt de Hann, snidet de Bann!'" Die Kundgebung, so heißt es weiter im zitierten Zeitungsbericht, schloß mit dem "Singen des Deutschland-, des Schleswig-Holstein- und des Horst-Wessel-Liedes". [51]

Oeser hatte schon bald bemerkt, wie wirkungsvoll der Einsatz des Plattdeutschen als vermeintlich unpolitischer Sprache für die subtile Propagierung der NS-Ideologie war. Außerdem sah er darin eine Verbindung zu Blut und Boden: "in düsse Moderspråk snack ik nu meist Åbend för Åbend to den dütschen Minschen. Un worüm snack ik platt? Wiel een in uns' Moderspråk vel mehr sien Hart rin leggen kann [...]. Denn uns' Moderspråk is dat grote Band to Bloot un Born [Boden]." [52]

Inhaltlich reflektierten Oesers Reden auf die von starker Feindseligkeit geprägte politische wie gesellschaftliche Situation der späten Weimarer Republik. In seinen Ausführungen propagierte er ein Gegenmodell: das Ideal vom harmonisch geeinten und von einer gemeinsamen Idee beseelten Volk. Ein solches Wunschbild sei bereits einmal Realität gewesen - in den Schützengräben des ersten Weltkrieges, so Oesers immer wieder neu aufgestellte Behauptung, habe es keine Klassen oder Standesunterschiede gegeben. Dort, in der Gleichheit, wo der politisch verwirrte Arbeiter selbstlos für die Nation einstand, sei auch der wahre Nationalsozialismus geboren worden.

"Dår buten in 'n Schüttengråben, dar weer dat all eendoon, wat de Mann weer un of he wat harr, he weer Dütscher, he weer mien Kameråd un em müß hulpen warrn, an nix anners wår dacht! Düsse Kameråydschaft, dat weer de Anfang vun den Nationalsozialismus". [53]

Die elementaren Erfahrungen von Krieg, Gewalt und Tod hätten angeblich den wahren Kern der Volksgemeinschaft zum Vorschein kommen lassen, was die Arbeiter - befangen in ihrer linken Verblendung - erst im Einsatz für die höchsten Ziele der Nation hätten sehen können. Zur Stützung dieser Behauptung - die völlig ignorierte, daß viele Soldaten keineswegs freiwillig in den Krieg gezogen waren und es in der Armee große soziale Unterschiede gab! - spielte Oeser oft auf seine lange Mitgliedschaft in der NSDAP an, denn er als alter Parteigenosse könne die Wurzeln des Nationalsozialismus am besten erkennen.

Wie ein solches Programm in einer Veranstaltung unterzubringen war, zeigt das Beispiel der öffentlichen Versammlung am 18. März 1932 in Krempe (vgl.


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[Abb. 11: Kremper Marsch-Bote 17.3.1932]

Abb. 11). Die Bilder vom Wintersport im Riesengebirge waren der unterhaltende Teil des Abends; im Anschluß stimmte der Film über Verdun die Besucher auf den Krieg ein, und Oeser stellte in seiner plattdeutschen Rede die Verbindung vom Schützengraben zur Hitlerpartei her: Der Kampf geht weiter! Hier war alles geboten: "moderner" Medieneinsatz in der Verbindung von Unterhaltung und Agitation.

Neben der populistischen Sympathiewerbung in der Bevölkerung erweiterte sich Oesers Einsatzbereich im Laufe des Jahres 1931. Mehrfach hielt er im Rahmen NS-interner Veranstaltungen die Ansprache, etwa bei Gedenkfeiern für "im Dienst" ums Leben gekommene SA-Männer, bei Fahnenweihen und - nach dem Machtantritt der NSDAP - auch bei der Pflanzung von Hitler-Eichen. In diesen Zusammenhängen dürfte seine Rolle als altgedienter Parteigenosse eine große Rolle gespielt haben, um ihn aus der Gruppe anderer Redner hervorzuheben und zugleich seinen Worten mehr Bedeutung beizumessen.

Für das Frühjahr 1934 läßt sich ein erneuter deutlicher Wandel in Oesers propagandistischer Arbeit feststellen: er vergrößerte sein Einsatzgebiet über den norddeutschen Raum hinaus und trat im Rahmen von berufsspezifischen Veranstaltungen [54] u.a. in Freudenstadt, Marburg, Breslau, Berlin und Magdeburg auf. Ab August 1934 machten dann Reden in Hamburger Betrieben bzw. im SA-internen Einsatz den Schwerpunkt seiner Aktivitäten aus, also bereits einige Zeit vor der am 1. April 1935 erfolgten Bestellung zum Referenten für nationalpolitische Schulung der SA.


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[Abb. 12: Werber-Handzettel zu Oesers Redeauftritt am 3. Dezember 1935 in Danzig]

An den ab 1934 von Oeser bestrittenen Veranstaltungen läßt sich ein deutlicher Funktionswandel der nationalsozialistischen Propaganda ablesen. Nachdem mit der Regierungsübernahme der NSDAP die Phase der Etablierung der Partei abgeschlossen war, ging es jetzt um die ideologische Stabilisierung, denn trotz zahlreicher Zwangs- und Terrormaßnahmen stießen Politik und Weltanschauung Hitlers in der Bevölkerung durchaus noch auf Skepsis und Ablehnung - ungeachtet suggestiver Behauptungen in der Presse:

"Sie kamen alle, alle die mit gläubigem Herzen zu unserem Führer und der Bewegung stehen. Da saßen und standen sie: der Pg. neben dem Vg., der SA-Mann neben dem Politischen Leiter, der SS-Mann neben dem Kameraden vom Motor- und Marinesturm, die Kameradin von der Frauenschaft neben dem BdM-Mädel." [55]

Es begann, was Oeser als "Ringen um jeden noch abseits stehenden deutschen Volksgenossen" [56] bezeichnete, nämlich sein intensives Propagieren von Tatbereitschaft und Volkstumsideologie. In den Ansprachen betonte er immer wieder, "daß der Kampf um den Staat schwer gewesen sei, tausendmal schwerer aber sei der Kampf um den inneren Menschen. Es komme jetzt darauf an, in allen Deutschen den Glauben an den Führer und die nationalsozialistische Weltanschauung zu wecken und zur lebendig wirkenden Kraft werden zu lassen. [...] Keiner darf denken, daß die Politischen Leiter, daß SA, SS und die Wehrmacht die großen Zukunftsaufgaben


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[Abb. 13: Oeser hielt "vor der geschlossen erschienenen Belegschaft eine längere Ansprache, die mit großem Beifall aufgenommen wurde." [57] Betriebsversammlung der Danziger Neuesten Nachrichten am 11. März 1937]

schon lösen werden; auf jede einzelne Frau, auf jeden einzelnen Mann komme es an, um das Dritte Reich in seiner ganzen umfassenden Bedeutung aufzubauen." [58]

Eine solche ideologische Indoktrination - die Oeser selbst wohl als Überzeugungsarbeit angesehen haben dürfte - fand in den Jahren ab 1935 oft im Rahmen von Betriebsversammlungen in unterschiedlichsten Firmen statt, deren Teilnahme für die sog. "Gefolgschaften" obligatorisch war. [59] Oeser sprach vor den Mitarbeitern sowohl kleinerer wie größerer Hamburger Betriebe, etwa bei Karstadt (11.3.), dem Ottensener Eisenwerk (6.4.), New York Gummi (1.5.), Wayss & Freitag (5.10.), Hapag (7.11.), der Neuen Sparkasse von 1864 (22.11.) und vielen anderen. [60]

"Der Wert sinnvoller Betriebsappelle", hieß es in einem späteren Pressebericht, "ist wohl in erster Linie in der Tatsache gegeben, daß diese Betriebsappelle nach der Richtung der Aufklärungsarbeit wertvollste Anregungen geben. Die bisherige Erfahrung hat bereits gezeigt, daß eine solche Aufklärungsarbeit innerhalb der Betriebe, in unmittelbarer Nähe oder gar im Anblick der Arbeitsplätze, bedeutende Erfolge gezeitigt hat. Darüber hinaus dürfte überall da, wo es dem Betriebsführer gelingt, diese Betriebsappelle zu einem erhebenden Erlebnis für seine Gefolgschaft zu gestalten, auch der praktische Nutzen nicht ausbleiben" [61] - was auch immer damit gemeint gewesen sein mochte.

Oeser fand vor allem in den Betrieben ein aufmerksames Publikum für seine naive Theorie von der Entfremdung des deutschen Arbeiters von der Volksgemeinschaft. Die Feindschaft der Klassen sei ein Relikt der Vergangenheit: "Karl Marx kam und brachte dem deutschen Arbeitsmann die Lehre vom Kommunismus. Er holte sich aus der Arbeiterschaft redegewandte Arbeiter, ließ


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sie in Rednerschulen unterweisen und dann wurden sie zu Sekretären gemacht. So kam es, dass 1914 schaffende deutsche Arbeitsleute unter der Führung von internationalen Juden standen. Da kam der Krieg. Da bewies der deutsche Arbeitsmann, dass das Blut stärker war als das, was der Jude ihn gelehrt hatte. Am 2. August 1914 hat der deutsche Arbeiter sich zum Volk bekannt." [62]

In einer anderen Versammlung führte Oeser seine Gedanken über den deutschen Arbeiter weiter: "Als alle zu den Fahnen des Führers eilten, er konnte es nicht. Er konnte nicht seine Ueberzeugung von heute auf morgen ändern, dafür war er zu häufig betrogen worden. Aber gerade diese, [...] die ehrlich ihre Meinung vertraten, die nur Marxisten waren, weil sie irregeführt wurden, sind nicht die schlechtesten Menschen, auch wenn sie unsere Gegner waren. Der deutsche Arbeiter muß sich erst in dem nationalsozialistischen Staat zurechtfinden, der eine früher, der andere später, er muß sehen, daß der Führer es wirklich ehrlich mit ihm meint, er muß begreifen, daß er heute genau dieselben Rechte hat, wie jeder andere deutsche Volksgenosse". [63]

Es ist ein erstaunliches Phänomen innerhalb der eindeutigen Männerdomäne nationalsozialistischer Propaganda, daß Oeser immer wieder explizit die Rolle der Frauen in seinem Volksideal betonte und sich auch gezielt an die NS-Frauenschaften wendete:

"Wenn Ihr Nationalsozialisten werden wollt, dann müsst Ihr erst einmal zurückkommen zum Besten, was wir besitzen, zu Blut und Boden. Deutsche Erde - deutsche Muttererde - da ist unsere Kraft herausgekommen. Und wenn Ihr plattdeutsch redet, dann kommt Ihr nie in die Lage "grootsnutig" zu werden, denn in plattdeutsch kann man sich nicht "grootsnutig" ausdrücken.

Liebe, deutsche Frauen! Ihr müsst dem Führer bei seinem Werk mithelfen. Und Ihr, Parteigenossen, ich hoffe, dass Eure Frauen auch alle in der Frauenschaft sind (Langanhaltender Beifall); denn nicht allein damit ist es getan, dass Ihr helft, sondern Eure Frauen müssen auch mithelfen. Unsere Frauen haben vielleicht noch grössere Aufgaben zu erfüllen, als wir. Sie sollen unseren Kindern den neuen Geist beibringen, denn unsere Kinder sollen dereinst das Erbe übernehmen und dieses Erbe weiterführen. Und hast Du ein Mädel, so frag sie, ob sie zur Mädelgruppe gehört, und fordere sie auf, hineinzugehen, damit sie lerne zu dienen, zu dienen dem Volk. [...]

Wenn Ihr arbeitet in der Frauenschaft, dann nur für ein Ziel: dem Führer zu dienen. Ihr müsst aufpassen Tag und Nacht, dass es kein Tratschklub wird und auch kein Kaffeekränzchen, sondern Ihr müsst das eine Gefühl auf Eure Abende mitnehmen: von diesem Abend will ich neuen Geist mitnehmen [...]. Wir alle haben es so ungemein schwer, uns selber zu erziehen. Wir leiden alle noch unter der bürgerlich-marxistischen Erziehung, daher erst bei sich selber anfangen. Ihr müsst, wenn Ihr vor einem Judenladen steht, Euch mal die Bilder vorstellen aus den letzten 15 Jahren vor 1933, als der Jude im Arbeitgeberverband als Syndikus sass und den Arbeitgeber aufhetzte, keine Lohnforderungen zu bewilligen: werft sie doch raus, wenn sie nicht wollen, es gibt ja genug Erwerbslose. Der internationale Jude kann nur solange leben, als wir selber uns uneinig waren." [64]

Gemäß Oesers Strategie kam nun den


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Frauen die Aufgabe zu, die Integration der Arbeiter in den "Volkskörper" zu unterstützen. Offenkundig hegte er Sympathien für den "Mann, der früher als Kommunist, Marxist und Reichsbannermann auf der Straße uns gegenüberstand; es waren nicht alles Lumpen. In der Hamburger Roten Marine waren Männer, die mit derselben Ueberzeugung gekämpft haben, wie wir. Sie sind nicht schlechter und wir besser, sondern unsere Idee und unsere Führer waren tausendmal besser als ihre Führer, die über die Grenze gingen. 1933 lagen wir alle in Alarm. Wir gingen als Sieger durchs Ziel und diese deutschen Arbeitsleute mussten dann nach Hause gehen. [...] Sie haben den Glauben an die Zukunft und den Glauben an die Menschheit verloren - und hier, deutsche Frauen, hier habt Ihr die grösste und beste Gelegenheit. Wenn bei Euch in der Nachbarschaft Leute sind, die noch nicht können aus innerstem Empfinden heraus, die lange arbeitslos sind, sprecht ihnen Mut zu und helft ihnen an Adolf Hitlers Reich zu glauben." [65]

Es ist kaum zu differenzieren, ob dieser "Volksredner" [66] tatsächlich so naiv war und selbst an die von ihm behauptete harmonistische Integration glaubte, oder ob er als Demagoge lediglich gute Miene zum bösen Spiel machte und euphemistische Reden hielt, während er sehr wohl wußte, daß die Gestapo im selben Moment die nicht-linientreue Arbeiterschaft scharf beobachtete und skrupellos jegliche Opposition zerschlug.

5. "Von dem Jubel der Hunderte empfangen": Wirkung einer individuellen Rednerstrategie

Mit zunehmender Rednerpraxis entwickelte Oeser die Fähigkeit, seine Zuhörerschaft sehr schnell in den Griff zu bekommen und die gewünschten Reaktionen hervorzurufen. Durch seine an der Oberfläche schlichte Art wurde den Veranstaltungsbesuchern kaum bewußt, vom professionellen Agitator gelenkt zu werden. Viele der damaligen Zeitungsberichte skizzierten Strategie bzw. Vorgehensweise des Redners und beschrieben das Verhalten des Publikums. Exemplarisch hierfür steht ein Artikel aus dem Februar 1936:

"Erwartungsvoll saß jung und alt im sehr gut besuchten Saal von Rich. Eggers-Curslack. Von der in brennendes Rot getauchten Bühne leuchteten die Symbole des dritten Reiches, und in wuchtigen Lettern stand zu lesen der Spruch des 30. Januar: Führer befiehl - wir folgen. Sie wurden nicht enttäuscht, alle, die gekommen waren, im Gegenteil, dieser schlichte Kämpfer im braunen Ehrenkleid der SA. fand sofort mit wenigen Worten den Weg zu den Herzen der andächtig Lauschenden. Das war kein Vortrag im üblichen Sinne, keine rhetorisch ausgeklügelte Rede nach irgend einem System. Hier sprach ein deutscher Volksgenosse in unverfälschtem Platt zu seinen Volksgenossen in schlichter und doch mitreißender Art von dem gesamten Erleben unserer großen geschichtlichen Gegenwart. Was Oeser so beliebt macht, das ist seine bildhafte, fast plastische Darstellung alles Erlebten, ob er ein hohes Lied auf unsere Muttersprache singt oder von den letzten großen Tagen in Berlin erzählt oder den ewig Gestrigen eine passende Abfuhr erteilt, immer läßt er bei seinen


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[Abb. 14: "Einer der bekanntesten und gesuchtesten Versammlungsredner". Ankündigung eines Redeauftritts in Reinbek, April 1937]

Zuhörern eine Saite im tiefsten Innern anklingen, die von größter Nachhaltigkeit ist. Man glaubt es diesem fanatischen Streiter Adolf Hitlers, wenn er zum Schluß sagte, daß er immer wieder seinem Herrgott danke, daß er ihm die Kraft gegeben habe, für das Werk des Führers im Kampf um die Seele des deutschen Arbeiters sprechen und arbeiten zu dürfen. Machtvoll erklang von den Anwesenden, die von den Ausführungen stark ergriffen waren, das Bekenntnis zu Volk und Führer. Mit dem Kampflied der Bewegung wurde diese Feierstunde beendet." [67]

Es dauerte nicht lange, bis Oeser sich den Ruf erwarb, "einer der bekanntesten und gesuchtesten Versammlungsredner" [68] des Hamburger Raumes zu sein. Nicht nur in den gelenkten Presseberichten, sondern auch in offiziösen wie privaten Briefen erhielt er positive Resonanz auf sein Tun. Nach dem großen Publikumserfolg einer Rede am 6. August 1935 [69] schrieb ihm der Leiter der veranstaltenden Ortsgruppe:

"Wenn auch die Ortsgruppe Adler von sich behaupten kann, dass alle ihre Versammlungen einen guten Besuch aufzuweisen haben, so muss ich doch bekennen, dass die Ankündigung, dass Sie auf dieser Kundgebung sprechen würden, eine direkte Völkerwanderung nach dem Neuen Hamburger Schützenhof hervorrief. Sie haben Sich ja selbst davon überzeugen können, dass sämtliche Räume des Schützenhofes gerammelt voll waren. Ausserdem hatten einige Hundert Volksgenossen draussen im Garten Aufstellung genommen, um durch die dort angebrachte Lautsprecheranlage Ihrer Ansprache zu lau-


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schen. Auch der während der Rede immer wieder hervorbrechende Beifall wird Ihnen auch sicher selbst Beweis gewesen sein, dass Sie den richtigen Kontakt mit der Bevölkerung des Ortsgruppenbereiches der Ortsgruppe Adler gefunden hatten.

Ihre Rede war in Aufbau und Inhalt, in der Niederdeutschen Volkssprache gehalten, ein Meisterwerk, besonders dürften Ihre Ausführungen über den S.A. und Parteigeist während der Kampfzeit und der besondere Hinweis auf die für die Bewegung gefallenen Hamburger S.A.Männer und den Hitler-Jungen Blöcker die Zuhörer tief ergriffen haben.

Ich bin der Ansicht, dass durch Ihre Ausführungen selbst den hartgesottensten Spießern und Nörglern keine Möglichkeit gegeben war, irgendwelche Kritikmöglichkeiten herauszufinden." [70]

Zur Ansprache im Rahmen einer Betriebsveranstaltung am 28. November 1935 schrieb ihm ein gewisser Otto Ruth aus Thesdorf bei Pinneberg schon zwei Tage darauf einen Dankesbrief:

"Als kleiner Angestellter der Firma Wm. Klöpper A.-G., habe ich das dringende Bedürfnis und halte es gleichzeitig für meine Pflicht, Sie [!] für die kernigen und zu Herzen gehenden Worte zu danken, die Sie bei unserer Betriebsversammlung an uns richteten.

Als holsteiner Junge sind mir Ihre Worte in meiner Muttersprache sehr nahe gegangen, da ich zu Hause nur platt spreche.

Als jüngstes Vertrauensratsmitglied, ich bin nämlich 27 Jahre alt, habe ich an meiner Arbeitsstelle Verbindung mit den ganzen jüngeren Angestellten und ganz besonders mit den gewerblichen Arbeitern. Die letzteren, welche früher der NSDAP sehr feindlich gegenüberstanden, haben wir [!] nach der Versammlung geschlossen erklärt: "Dat weur obers en Kerl, de het unser Hart obers ordentlich ümkrempelt, de mut bald mol wedderkomen!" Also 100%iger Erfolg.

Ferner hat Ihr Vortrag uns als Vertrauensratsmitglieder ertsmal [!] wieder die Arbeit für eine ganze Zeit in unserem schwierigen Betrieb ganz grosse Dienste geleistet, nämlich wir finden bei einigen Abteilungsleitern und Angestellten nicht das nötige Verständnis für unsere Arbeit." [71]

Ein Kommentar des Leiters der NSDAP-Ortsgruppe Hopfenmarkt in der Hamburger Innenstadt zu Oesers Auftritt am 28. Februar 1936 deutete an, daß die Beliebtheit des Redners besondere Mobilisierungseffekte hatte:

"Ein guter Ruf ging Ihnen voraus. Aber einstimmig und mit Begeisterung wird mir bestätigt dass alle Erwartungen weit übertroffen wurden. Besonders diejenigen, die sonst schwer zu Versammlungen heranzuziehen sind und die hauptsächlich Ihretwegen gekommen waren, sind voller Begeisterung und haben die Aufmunterung bekommen, die dringend notwendig war." [72]

Auch unter Intellektuellen war die appellative Wirkung Oeserschen Mundartgebrauchs zu beobachten, wie der Gaustudentenbundsführer H. Weber am 24. April 1936 bestätigte:

"Nachdem Sie damals bei der Kundgebung des Studentenbundes in Buxtehude so grossartig allen Kameraden gefallen haben, bestürmt man mich aus Bremen immer wieder mit der Bitte, Sie unbedingt einmal nach dort zu holen. Darum möchte ich Sie, lieber Pg. Oeser, recht herzlich bitten, sobald es Ihre Zeit erlaubt nach Bremen zu kom-


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men, um dort vor den versammelten Gruppen des Studentenbundes und vieler Gäste in derselben mitreissenden, niederdeutschen Weise zu sprechen." [73]

Manchmal waren es auch simple Bekundungen der Zustimmung, die Oeser erreichten, etwa am 12. Februar 1936 von Ferdinand Böttcher aus Buxtehude: "Ehr Vördrag güstern Awend bi Jan Brand hett mi bannig gefullen, datt giwt Vertruen, son Sprook de ut dat Hart kummt, versteiht ok de eenfache Arbeitsmann. Ick bitt Se, recht bald mal wedder to kamen. Heil Hitler". [74]

Diese Reaktionen, die von Oeser sorgfältig aufbewahrt worden sind, belegen seine Rolle als populistischer Sprecher - die Zugkraft seiner simplen, zuweilen derb-drastischen Art erzielte in allen Schichten der Bevölkerung die beabsichtigte Wirkung, und Oeser wußte diesen Effekt gezielt einzusetzen. Daher ist nicht verwunderlich, daß er mehrfach von der die Propagandaeinsätze koordinierenden Deutschen Arbeitsfront auch überregional eingesetzt wurde, wobei der Plattdeutschgebrauch außerhalb Norddeutschlands natürlich unterblieb.

6. "Über die Grenzen des Reiches hinaus": Einsatz des Wortes vor und hinter den Fronten

Mit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges zeichnete sich eine erneute Veränderung der nationalsozialistischen Agitation ab, da nun in allen Bevölkerungskreisen Kriegsbegeisterung geschürt werden mußte. Eine zeitgenössische Quelle - aus Oesers Heimatregion Harburg - beschrieb die neue Situation einer gezielten Manipulation der Bevölkerung:

"Die Kunst der Propaganda, geübt und gelehrt vom Führer selbst durch zwei Jahrzehnte des Friedens, hat das deutsche Volk zur nationalsozialistischen Weltanschauung bekehrt, und das gesprochene Wort in den Massenaufklärungen durch die NSDAP. im Kriege hat nach wie vor seine volle Geltung behalten und bewiesen. Durch die rege Propagandatätigkeit der Partei im Rundfunk, in der Presse und vor allem durch Tausende von Veranstaltungen und Kundgebungen, die trotz der natürlichen Wechselwirkungen der Kriegslage im deutschen Volke durchgeführt wurden, war die Haltung und Stimmung stets durchaus gut." [75]

Auch in dieser dritte Phase der Propaganda [76] bestritt Hermann Oeser mehrere hundert nun zentral organisierte Auftritte, wobei sich sein Einsatzgebiet, die Sprache und bedingt auch die Redeinhalte wandelten. Noch bis Ende 1941 betätigte er sich nach wie vor hauptsächlich innerhalb des norddeutschen Raumes, nur daß sein Publikum vermehrt aus Militärangehörigen - auf Fliegerhorsten, in Marineabteilungen, beim Luftschutz - oder den Mitarbeitern kriegswichtiger Betriebe (Munitionsfabriken, Werften) bestand. Hinzu kamen auch vielfältige Einsätze im Rahmen von Politischen Schulungen und Seminaren der SA.

Hatte Oeser noch wenige Wochen zuvor die Notwendigkeit der Einigkeit der Deutschen beschworen, sprach er nach Kriegsbeginn darüber, als sei sie Tatsache und langjährige, sichere Erfahrung. Mit der Zielgruppe des einig zusammenstehenden Volkes als historischem Akteur spulte er nun während seiner Haupteinsätze Tag für Tag Durch-


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[Abb. 15: Hamburger Fremdenblatt 17. Juni 1940]

halteparolen ab. Die verschiedenen Elemente der Ansprachen waren in ihrer Wirkung schon lange erprobt, und ohne jegliche Logik montierte Oeser sie nun ganz nach aktuellem Bedarf neu: ein routinierter Demagoge, bei dessen Aussagen es sich um teils geschickte, teils plumpe Indoktrination zur Stabilisierung von Feindbildern, zum Beschönigen der Entbehrungen, zur Steigerung der Opferbereitschaft, zum kritiklosen Gehorsam handelte.

Oesers altbewährte Themen boten ein funktionales Reservoir willkürlich kombinierbarer Versatzstücke, und abgesehen von aktuellen Bezügen entwickelte er auch nach Kriegsbeginn in seinen Propagandareden keine neuen Leitgedanken oder Konzepte. Für seinen Bedarf genügte in erster Linie das Wiederaufgreifen der Soldatenthematik, galt es doch, die Notwendigkeit der Einheit zwischen den Schützengräben und der "Heimatfront" herauszustellen. Der Appell an Frauen bzw. Jugend, die Integration der Arbeiter, der Antisemitismus, die reduktionistisch-naive Geschichtstheorie, selbst die Rolle des eigenen Großvaters waren schon unzählige Male in Reden aufgetaucht. Nur Oesers Stellung als "Veteran der Bewegung" erhielt noch größeres Gewicht, um seine Worte überzeugender klingen zu lassen.

"Als ein Mann, der [...] am Ende schmerzlich empfinden mußte, vor dem eigenen Großvater, Feldzugsteilnehmer von 1870-71, nicht bestehen zu können, konnte der Redner ein Mahner der Jugend sein, den Alten mit Ehrfurcht zu begegnen und aus jenen Vorgängen die Lehre zu ziehen, ein jeder an seinem


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Teil das Seine dazu zu tun, aus diesem neuen Ringen mit dem Eichenlaub des Sieges um den Stahlhelm in die Heimat zurückzukehren." [77]

Martialischer wurde lediglich die Phraseologie, die aber teilweise den vorgegebenen Themen der jetzt wieder durchgeführten Versammlungswellen entsprach - die Reden selbst mußten inhaltlich damit keineswegs in Verbindung stehen. "Großdeutschland, Schritt gefaßt" lautete das Motto eines Betriebsappells in einem Luftwaffenstützpunkt bei Delmenhorst Anfang März 1941. [78] "Für den Alltag gehärtet, für die Pflicht gestählt" [79] waren die Leitworte eines Auftrittes im Januar 1943 in Winsen/Luhe, der im Rahmen der Versammlungswelle "Für Freiheit, Recht und Brot!" stattfand. Schon am 29. Oktober 1942 hatte Oeser auf einer ebenfalls zu dieser Aktionsreihe gehörenden Großkundgebung in Heide/Dithmarschen folgende Ausführungen gemacht:

"Uneinigkeit und Untreue brachten unser Volk immer wieder an den Abgrund. So war es 1918, als die tapferen Frontsoldaten zurückkehrten und eine Heimat fanden, deren sie sich schämen mußten. [...] Die Feinde konnten mit dem uneinigen Volke machen, was sie wollten. Nun stehen wir wieder in einem Krieg, um unser Leben, unser freies Volk und unsere Scholle zu verteidigen. Die Feinde wollen wieder ein Sklavenvolk aus uns machen. Churchill hatte sich aber bei seinen Kalkulationen verrechnet, insbesondere aber den deutschen Arbeiter falsch eingeschätzt. Er glaubte, daß dieser im Augenblick des Kriegsausbruches Revolution machen würde. So hatten es ihm die Juden gesagt. [...]

Churchill drückte seine stärkste Hoffnung auf den Sieg aus mit den Worten: "Der deutsche Militarismus kann nur durch das deutsche Volk zerstört werden." Seien wir auf der Hut, schenken wir den falschen Gerüchten, die der Feind verbreitet - und er verbreitet nur falsche, um sein Ziel zu erreichen - keinen Glauben. [...] Der Führer führte die allgemeine Wehrpflicht wieder ein. Er rüstete die deutsche Wehrmacht aus wie nie zuvor. So fanden die Gegner ein Deutschland, wie sie es nicht vermutet hatten. Zeigen wir in der Heimat unsere Arbeits- und Tatbereitschaft, desto leichter gewinnen wir den Krieg. Die Front wird niemals geschlagen. Um die Heimat braucht sie sich keine Sorge zu machen. Aber sie hat ein Recht, jeden einzelnen zu fragen: Hast du hier in der Heimat deine Pflicht getan? Daran denkt auch besonders ihr Jungen aus der HJ. und dem BDM. Grüßt jeden verwundeten Soldaten, dem ihr begegnet. Ihr seid es ihm schuldig! Für euch haben sie gekämpft und gelitten. Wir sind es auch dem Führer schuldig. Er hat sein Volk so lieb, für sich beansprucht er gar nichts, er kennt nur Arbeit und Sorgen. Zeigen wir ihm unsere Einsatzbereitschaft, bis der Tag kommt, wo er unseren Feinden den Frieden diktieren wird." [80]

Es wird deutlich, daß Oeser die Elemente seiner Gedankengänge einfach auf das neue Propagandaziel ausrichtete, und da es sich bei seinen Aussagen ohnehin nur um Behauptungen, aber nicht um nachweisbare Tatsachen oder argumentativ zu erörternde Thesen handelte, bereitete ihm das keine Schwierigkeiten. Ebenso einfach konnte er seine Monologe noch immer auf Platt präsentieren, dabei das traditionelle Repertoire humoristischer wie drastischer


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Wirkungen gezielt ausschöpfend.

Ab Anfang 1942 unternahm Oeser mehrmals für einige Wochen und sogar Monate im Auftrag der Deutschen Arbeitsfront Rundreisen zu deutschen Truppenteilen im besetzten Ausland, die der ideologischen Stabilisierung und Lenkung der Soldaten dienten: im Januar nach Norwegen und Frankreich, im Februar nach Holland und erneut Frankreich, im März mit Zwischenauftritten in der "Ostmark" nach Kroatien, Serbien, im April nach Belgien, im Mai und Juni nach Frankreich. "Die weltanschauliche Schulung der Partei greift über die Grenzen des Reiches hinaus und vermittelt auch unseren Soldaten, die in den von uns besetzten Gebieten stehen, einen Einblick in die Vorgeschichte und Bedeutung des gegenwärtigen Schicksalskampfes unseres Volkes. Hermann Oeser hatte kürzlich Gelegenheit, in Westfrankreich im Rahmen einer großen Kundgebung der DAF., Amt Luftwaffe, vor Tausenden von Männern der Luftwaffe, des Heeres und der Marine zu sprechen." [81]

Wie drastisch Oeser die Lage Deutschlands beschreiben und dabei jedes sich bietende Feindbild mobilisieren konnte, geht aus einem Bericht über seine Rede im Luftwaffenstützpunkt Amsterdam vom 15. Februar 1942 hervor: "Seinen packenden Ausführungen lag der Gedanke zugrunde, wie man als Nationalsozialist, auch wenn man nicht die Ehre habe, den Rock des Soldaten zu tragen, durch Arbeit, Pflichterfüllung und ständige Einsatzbereitschaft dem Fëhrer [!] helfen könne. Denn in dieser schicksalsschweren Zeit, in der es um das Dasein Deutschlands und darüber hinaus um die Kultur des Abendlandes gehe, müsse jeder seine Kraft einsetzen. Hinter den gewaltigen Leistungen des deutschen Soldaten, der in Sturm und Eis das Vaterland vor der bolschewistischen Pest verteidige, dürfe die Heimat nicht zurückstehen. Was bedeuten die Einschränkungen in der Heimat gegenüber den Opfern der Front! Was Bolschewismus bedeute, sei Millionen unserer Feldgrauen erst jetzt so recht klar geworden; welche Auswirkungen es haben würde, wenn der rote Sturm über Europa gefegt wäre, sei nicht auszudenken." [82]

Höhepunkt dieser ersten Propaganda-Tournee war unter anderem ein Auftritt im Brüsseler Palast der schönen Künste am bedeutungsvollen 20. April 1942, den die NSDAP-Ortsgruppe Brüssel durch feierliche Aufnahme "reichsdeutsche[r] und luxemburger Jungen und Mädchen" in die HJ. beging: "Landesjugendführer Schmidt [...] wies darauf hin, daß Deutschland alljährlich seine Jugend dem Führer zum Geschenk darbringt."

Oesers Worte appellierten an den Durchhaltewillen: "Neben unserem Volke stehen heute die anderen Völker und feiern den Geburtstag des deutschen Germanenführers Adolf Hitler. Wir können darin ein Symbol sehen und es braucht uns nicht bange zu sein um die Zukunft. Wir sind bereit, mit Adolf Hitler zu gehen, jede Not und Entsagung auf uns zu nehmen bis zum siegreichen Ende, bis der Führer Deutschland und der Welt den deutschen sozialen Frieden geben wird!" [83]

Neben diesen Fronteinsätzen sprach Oeser im Juli 1942 im Sudetengebiet (vgl. Abb. 16), im Oktober in Schlesien und im November bzw. Dezember im Raum Danzig. 1943 schlossen sich mehrere Rundreise ins Ausland an: nach Frankreich (Februar bzw. April), Estland


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[Abb. 16: Einsatzanweisungen Hermann Oesers für das Sudetengebiet]


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(März), Holland (Mai), Dänemark (Juni) und Norwegen (August bzw. November). Stolz berichtete Oeser seinen Eltern in einem Schreiben aus Ost-Luga/ Estland vom dortigen Einsatz: "In den nächsten Tagen komme ich nah an die Front von Leningrad. Ich spreche jeden Tag 2 oder 3 x vor unseren Soldaten. Immer wieder treffe ich auf Soldaten, die mich aus Hamburger Versammlungen kennen. Ich freue mich, daß ich auch in diesem Krieg einmal nach vorn darf. Nächsten Monat geht es wieder nach Frankreich. Es ist aber gut, daß man auch dieses verlauste Land einmal sieht." [84]

Mit Verlagerung der Agitationstätigkeit an die Fronten wurde die Zahl von Oesers Propagandareden ab 1943 innerhalb Deutschlands deutlich geringer. Im November 1943 trat er neunmal im Raum Cuxhaven auf, am 22. August 1944 sprach er vor der Belegschaft des Bankhauses Eichborn & Co. in Breslau, und der späteste Eintrag in seiner nur noch lückenhaft geführten Liste lautet "1944 Nov. Cottbus Luftschutz Grossdeutschland". [85] Berichte über diese Reden liegen nicht vor; es ist aber anzunehmen, daß Oeser der Kriegslage entsprechend das Aushalten bis zum Endsieg propagiert haben dürfte, hatte er doch bereits im März 1941 auf dem Luftwaffenstützpunkt bei Delmenhorst eben diesen Endsieg beschworen:

"Pg. Oeser schilderte nun in großen Zügen, wie es zum Kriege von 1939 kam, gab viele Beispiele des Heldenmutes deutscher Soldaten und wies darauf hin, daß das gesamte deutsche Volk heute eine untrennbare Einheit bildet. Alle kämpfen und arbeiten mit am deutschen Endsieg. In launiger Weise rechnete der Redner mit den noch hier und da lautwerdenden Nörglern ab und lenkte den Blick immer wieder darauf hin, daß es vollkommen gleichgültig ist, an welchem Platz wir unsere Pflicht erfüllen, Hauptsache ist, daß wir sie mit höchster Einsatzbereitschaft verrichten und mit der ganzen Kraft eines gläubig-stolzen Herzens erfüllen.

Nie dürfen wir erlahmen und müde werden, immer müssen wir daran denken, daß die Zukunft späterer Generationen ihr Glück und Wohlergehen, ihre Sicherheit und Freiheit heute von uns allen erkämpft wird. Wenn unsere Soldaten eines Tages nach Hause kommen, dann wollen wir ihnen stolz in die Augen sehen können in dem Bewußtsein, zu unserm Teil zum deutschen Endsieg beigetragen zu haben." [86]

Wie schlecht die Chancen tatsächlich aber für diesen Endsieg standen, mußte Oeser eigentlich genau wissen, zumal er in Harburg als Mitarbeiter des Luftschutzes die ständigen schweren Bombenangriffe auf den Raum Hamburg miterlebte und in seiner Stellung als Reichsredner bzw. SA-Oberführer sicherlich mehr Informationen über die wirkliche Lage an den Fronten bekam, als gewöhnliche Bürger.

7. Aufrecht - und ohne Uhr: Ende einer politischen Laufbahn

"Am 3. Mai 1945, an meinem 46. Geburtstag besetzten nachmittags gegen 5 Uhr die "Befreier" Hamburg." Mit diesen Worten begann Hermann Oeser seine nach der Entlassung aus britischer Internierung abgefaßten Erinnerungen Mein Leben nach Deutschlands Zusammenbruch [87], in denen er seine Festnah-


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me und die sich im Rahmen der Entnazifizierung anschließende Lagerhaft beschrieb. Ungeachtet des dürftigen Faktengehaltes vermittelt der Text einen bedrückenden Einblick in Oesers politische Einstellung der ersten Nachkriegszeit.

Die weiteren Etappen der Verhaftung schildert er so: "Nach einer halben Stunde erschien ein englischer Hauptmann mit dem Dolmetscher und holte sich mein Braunhemd ab als Siegestrophaee. Ich legte mich nun auf die Couch, da meine Frau Kaffee kochen wollte. Als der Kaffee um 16 1/2 Uhr fertig war, erschein der englische Oberleutnant mit dem Dolmetscher und sagte mir, ich sollte Mantel und Hut nehmen und mich von meiner Familie verabschieden. Ich musste mich unten vor der Apotheke auf einen Panzerspähwagen setzen. Vor mir sass ein englischer Soldat mit gezogener Pistole. 10 Minuten musste ich auf den Oberleutnant warten, es waren die schwersten Minuten meines Lebens. Ich musste annehmen, dass sie mich vor der Veddel umlegen würden. Sollte ich nun still und schweigsam für meine über alles geliebte Heimat in den Tod gehen? Nur mit Rücksicht auf meine Familie habe ich dann bei der Abfahrt nicht gerufen "Es lebe Deutschland". Ich habe noch niemals in meinem Leben so aufrecht gesessen. [...] Über Wilhelmsburg fuhren wir nach Harburg. Vor dem Rathaus musste ich absteigen; ich wurde 2 englischen Offizieren übergeben, nachdem der englische Soldat, der Fahrer des Panzerspähwagens, mir meine Uhr gestohlen hatte, wie es in der englischen Wehrmacht üblich war. [...]

Am nächsten Nachmittag um 17 Uhr wurden wir mit Lastkraftwagen zum Tennisplatz des HSV gebracht. Wir waren 30 Offiziere. Zwei mussten jeweils in ein Zimmer treten, in dem 2 englische Soldaten mit aufgepflanztem Seitengewehr standen. Dort wurden wir von einem drecki[gen] speckigen, ungewaschenen, unrasierten polnischen Juden restlos ausgeplündert. [...]

Am Dienstag, dem 22.5., wurde ich mittags von 2 englischen Offizieren abgeholt und ins Hotel Kontinental gebracht. Dort erwartete mich ein englischer Gestapomann (Secret Service) zur ersten Vernehmung. Dieser fragte mich, ob ich SA Oberführer und der bekannte Hamburger Reichsredner sei. [...]

Am 21. Juni 1945 wurden wir in das Lager Gadeland bei Neumünster gebracht, ohne dass wir bis dahin einmal vernommen worden waren. Wir hatten lediglich bei der Einlieferung in das Lager Iserbrook den grossen Fragebogen ausgefüllt. Hier in der ungeheuren seelischen und materiellen Not schied sich die Spreu vom Weizen. Das Lager teilte sich in Nationalsozialisten und Nazis. Von der höheren Führung haben in diesen Monaten des Hungers so viele versagt. Mit dieser Führung musste das Reich zu grunde gehen. [...]

Als im Frühjahr 1946 die Nachricht ins Lager kam, dass die politischen Verbände in Nürnberg als Verbrecherorganisationen gebrandmarkt werden sollten, habe ich an den internationalen Gerichtshof in Nürnberg geschrieben. "Als ältester Nationalsozialist Norddeutschlands stelle ich mich vor meine Parteigenossen. Ich bitte mich in Nürnberg als Zeuge zu vernehmen. Ich kann erschöpfend Auskunft gegen über den Weg der N S D A P in den letzten 24 Jahren. Mir ist nicht bekannt, dass jemals ein Parteigenosse einen Befehl bekommen hat, ein Verbrechen zu bege-


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[Abb. 17: Hermann Oeser im August 1948 (Ausschnitt aus seinem Kombinierten Kenn- und Meldeschein für aus der Internierung entlassene Personen)]

hen." Dieser Brief ging über den englischen Kommandanten nach Nürnberg, der mir auch den Abgang des Briefes nach Nürnberg bestätigte. Ich bin nicht als Zeuge vernommen worden. Im Sommer 1946 wurden wir alle jeder 10 Minuten von einem englischen Juden vernommen. Nach 10 Minuten war ich wieder draussen. 3 Juden führten in je einem Zimmer die Vernehmungen durch. [...]

Am 30. September 1946 wurden wir von Neumünster nach Eselsheide gebracht. Eine trostlose Sandwüste mit Wellblechbaracken. 10000 Mann hausten dort. Im April 1947 wurde ich wieder vernommen von einem Juden und einem englischen Heerespsychologen. Nach 4 Wochen bekam ich vom englischen Review Board (3 hohe englische Offiziere) den Urteilsspruch: "Wir sind über sie genauestens informiert. Sie sind in der Heimat gut beleumundet, sie haben ein sauberes vorbildliches politisches Leben geführt, sie waren begeisterter Nationalsozialist, sie haben in mehren [!] 1000 Versammlungen die deutschen Menschen begeistert. Aus diesen angeführten Gründen besteht die Gefahr, dass bei der augenblicklichen furchtbaren politischen Notlage das deutsche Volk wieder auf sie hört. Darum können wir sie noch nicht entlassen. Sie sind eine potentielle Gefahr für die Sicherheit des englischen Reiches." Ich erhob mich, stand aufrecht vor den Engländern und sagte "Für dieses Urteil, meine Herren, danke ich Ihnen." Am 17 Juni 1947 wurde ich dann in das Lager Adelheide bei Delmenhorst verlegt. Im April 1948 kam ich wieder zur Vernehmung. Wieder war es


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ein Vertreter des auserwählten Volkes, der mich vernehmen sollte. Er sagte: "Sie waren Redner. Haben Sie immer alles geglaubt, was sie geredet haben." ich antwortete: "Ja, das glaube ich heute noch, ich bin Sozialist." Darauf warf er mich hinaus. Das war die gesamte Vernehmung, die über mein weiteres Schicksal entschied. Trotzdem bin ich am 6. August 1948 als letzter norddeutscher Nationalsozialist mit den letzten 14 Kameraden, die ebenso aufrecht für ihre Überzeugung vor dem Engländer gestanden hatten, auf Betreiben von draussen aus dem englischen KZ nach 39 langen Monaten entlassen.

Schwere, harte Jahre der Prüfung lagen hinter mir. Ich hatte sie bestanden. Wie mancher hohe Parteiführer zerbrach innerlich." [88]

Soweit dieses Selbstzeugnis - es zeigt Hermann Oeser als unbelehrbar-naiven Menschen, der voller Haß und Antisemitismus steckt und in den besagten Monaten der Internierung sich krampfhaft an seiner Ideologie festgeklammert hat, anstatt eine kritische Position gegenüber dem eigenen Tun zu entwickeln. [89]

8. Oeser als "Opfer der NS-Propaganda": Strategie einer versuchten Denazifizierung

Oeser lebte in der ersten Zeit nach der Haftentlassung bei seiner Familie in Eddelak, denn aufgrund der "Richtlinien betreffend Wohnraum früherer Nationalsozialisten" hatte die Ortsdienststelle Veddel der Gemeindeverwaltung Hamburg seine Frau und die Tochter am 27. Juli 1945 zum Räumen der Wohnung in der Hovestraße 5 I aufgefordert [90]; die beiden waren daraufhin zu Oesers Eltern nach Dithmarschen gezogen. Er selbst war durch die Britische Militärverwaltung "von der Ausübung des Berufes als Apotheker suspendiert" worden, womit der Entzug der Betriebsrechte der Apotheke einherging. [91] Diese Maßnahme war Teil der im Rahmen des Entnazifizierungsverfahrens erfolgenden Kategorisierung in die Gruppe III (Minderbelasteter). [92]

Oeser versuchte mehrfach, sich gegen diese Entscheidungen zu wehren, wobei die Argumentation groteske Züge annahm. Am 30. Mai 1949 reichte ein gewisser Dr. jur. Müller-Brockmann einen Tag vor der Entscheidungsverhandlung in seinem Namen einen Antrag auf "Denazifizierung und Kategorisierung" ein. Die in der beigefügten 21seitigen Schutzschrift enthaltenen Behauptungen zur Rolle Oesers während des Nationalsozialismus verdrehten die Tatsachen auf eine Weise, die wohl als exemplarisch für die Versuche Belasteter zur Vertuschung ihres Tuns gelten kann. Bemerkenswert ist, wie Müller-Brockmann in Rahmen der Oeserschen Lebensbeschreibung Akzente verschob, dessen Persönlichkeit bewertete und dabei sowohl falsche Behauptungen aufstellte als auch gezielt Fakten unterschlug:

"Nach dem verlorenen Krieg (ab 1918) war Oeser durch die große Not der Nachkriegszeit von dem propagandistischen Wirken der NSDAP als blutjunger Mensch so stark beeindruckt worden, daß er wahrhaftig an die Möglichkeit der praktischen Verwirklichung des Wortes glaubte "Arbeiter der Stirn und Faust vereinigt Euch!". Somit trat Oeser der NSDAP als Mitglied bei.

Im diametralen Gegensatz zu den Le-


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gion zählenden ehemaligen Nationalsozialisten, die sich heute als Heldenfeiglinge aufführen, die nichts gewesen sein wollen, die heute winseln, ist ein Hermann Oeser früher wie heute - vor Engländern wie vor Deutschen gleichermaßen bewiesen - ehrlich genug zu bekennen: Es sei seine frühere politische Überzeugung im Jahre 1921 gewesen, daß durch die Ideen des NS das große Werk der Einigung des Deutschen Volkes gelingen würde.

Als - in des Wortes wahrster Bedeutung - Idealist reinster Prägung, einzig und allein ausgerichtet auf das Wohl und Wehe seines deutschen Vaterlandes und seiner Mitmenschen, rannte auch Hermann Oeser dem deutschen "Rattenfänger von Hameln", Hitler, nach, der, die Massen des schwergeprüften und völlig darniederliegenden deutschen Volkes bewußt fehlleitend, eine Besserung der sozialen Verhältnisse der Allgemeinheit und des Einzelnen sowie dessen Recht auf Arbeit und die Früchte dieser Arbeit immer wieder aufs neue versprach.

Und gerade die soziale Seite, besser gesagt: ausschließlich die soziale Seite der sog. Arbeiterpartei zog den jungen, unerfahrenen Oeser so außergewöhnlich an, schlug ihn in seinen Bann und ließ ihn glauben.

Auch seinerseits wollte er damals wieder mit aufbauen helfen. Was Wunder, wenn anno 1921 der blutjunge Mann, von glühendem Idealismus beseelt, den mit dem Anschein innerster Überzeugung, absolute[r] Wahrhaftigkeit und unbestechlicher Ehrlichkeit vorgetragenen und schriftlich gegebenen Versprechungen der deutschen Arbeiterparteiler aus der NSDAP restlosen Glauben schenkte - wie so manche es damals anfingen, wie es dann so viele taten -. Jedenfalls ist es eine Tatsache, die ja heute offenbar ist, daß auch Oeser sich gleich unzähligen Anderen von der NS-Propaganda praktisch doch irreführen ließ, die den NS als die Verkörperung all der Ziele erscheinen ließ, die jeder ehrliche Deutsche verfolgte. Besonders aber, wie gesagt, hat sich Oeser innerlich darauf verschworen, in seinem ganzen ferneren Denken, Sinnen und Handeln ein ehrlich kämpfender Sozialist zu sein und zu bleiben, und zwar ohne jede Rücksicht auf seine Person.

Das waren die Motive, aus denen heraus der junge holsteinische Idealist, Hermann Oeser, zur NSDAP stieß und von diesem Zeitpunkt an es für seine vornehmste und erste Aufgabe betrachtete, sich stärkstens für die Verwirklichung des Sozialismus innerhalb seiner norddeutschen Heimat mit Rat und Tat einzusetzen! [...]

1) [...] Es ist eine geschichtliche Tatsache, daß ganz besonders tyrannische und unaufrichtige politische Parteien, die auf die Regierungsgewalt hinstreben, es mit Hilfe einer außerordentlich unwahrhaftigen Propaganda - und später außerordentlichen Terrors - dazu bringen, daß viele Rechtssätze und Befehle befolgt werden, trotzdem sie dem Gewissen und den Rechtsgefühlen der Gehorchenden zuwiderlaufen oder zuwiderlaufen würden, falls diese die nackte Wahrheit wüßten.

Auch unter dem Regime Hitlers war es so. Daher erklärt es sich, warum die Zahl der Schuldigen und auch jener der Halb- und Viertelschuldigen sehr viel geringer ist, als jener [!] auf den ersten Blick geglaubt haben und leider vielfach noch heute glauben, die die Jahre 1918 bis 1945 außerhalb Deutschlands


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erlebt haben. Ja, leider täuschen sich auch sehr viele Deutsche, die hier waren, darüber ebenfalls gewaltig, und zwar aus dem Grunde: weil sie den Versicherungen Hitlers und seines Lügenmauls Goebbels, daß 98 oder 99 % der Gesamtbevölkerung Deutschlands Nationalsozialisten seien, oder weil sie dem äußeren Eindruck der beschränkten Umwelt, in der sie lebten, allzu leicht Glauben schenkten. All diese Deutschen - von diesen möchte ich vornehmlich hierbei sprechen - durchblickten nicht die ungeheuere Rolle, die Lüge und Gewalt in dem scheinbar freiwilligen Massengehorsam spielten. Die "Positivität" der ns. Rechtssätze und ganz besonders solche Befehle, die in den Augen des normalen Menschen Verbrechen darstellen, war zumeist gegenüber vielen Mitwissern und Mittätern durch äußersten Terror erpreßt und gegenüber der großen Mehrheit des Volkes durch eine beispiellose unwahrhaftige Propaganda erschlichen.

Betrachtet man nun hieran das Beispiel des jungen Oeser, so läßt sich folgendes sofort sagen:

Auch er ist in praxi ein Opfer der NS-Propaganda geworden, man kann also mit Fug und Recht bei ihm davon sprechen, daß er dem "politischen Irrtum" verfallen war.

Oeser war nun einmal absolut in gutem Glauben und als ehrlich ringender Deutscher in die NSDAP eingetreten und [hatte] nun gehorchen wollen und müssen. So wurden auch von ihm, - der, um einem allgemeinen Irrtum vorzubeugen: niemals als ein überragendes Lumen angesehen werden kann und darf! - viele Befehle befolgt, trotzdem sie (wie er heute gesteht) seinem Gewissen zuwidergelaufen seien würden, wenn er die Wahrheit genau gewußt hätte. Auch er hat lange Jahre die Lüge und die Gewalt des NS-Regimes und die führende und entscheidende Rolle, die diese beiden Faktoren spielten, nicht klar erkannt!

2) Der Mensch Oeser hat nun später - er war inzwischen Redner geworden - unbeirrbar von all und jedem, sogar von den Weisungen der örtlichen Führer seiner Partei, (!), in all seinen Versammlungsreden, aber wo er auch sonst, wo er ging und stand, die Gleichstellung des deutschen Arbeiters mit allem ihm eigenen Eifer und Nachdruck gefordert. Mit aller nur möglichen Schärfe hat er geradezu am laufenden Bande die Auswüchse der lieben Mitmenschen offen und klar gegeißelt, besonders von denen, die von Standesdünkel und Klassengeist durchdrungen waren. Dieses ständige und durch nichts abzuschwächende Ankämpfen - Hermann Oeser ist von einer selten urwüchsigen Kraft, und Kraft ist das Geheimnis seines Seins! - war dem NS-Führercorps Norddeutschlands "zu stur", so daß in ganz natürlicher Folge Oeser allmählich immer mehr, selbst zum linken Flügel der NSDAP gehörend, im wahrsten Sinne des Wortes zum "roten Tuch" dieser Nazi-Bonzen wurde: Der Idealist und Sozialist Oeser erhielt somit in der Zeit von 1935 bis 1945 ganze 8mal seitens der Gauleitung Redeverbot, sogar einmal Uniformverbot!! Dies ist eine Zahl und eine Tatsache, die für Oeser bezeichnend ist und für sich spricht! [93] [...]

3) Im Jahre 1925 trat Hermann Oeser zum 2. Male als Mitglied der NSDAP in Harburg bei. In den Jahren 1927 - 1929 war er Ortsgruppenleiter und gleichzeitig stellv. Gauleiter von Osthannover. Diese[s] letztere Amt war da-


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mals noch nicht ausgebaut und nur eine rein formale Angelegenheit. Im Jahre 1930 war Oeser Kreisleiter des Kreises Harburg-Land. Da er jedoch im Jahre 1931 die Verwaltung der Apotheke in Albersdorf/ i.D. (Holstein) übernahm, schied er aus diesen beruflichen Gründen endgültig aus dem Kreise der politischen Leiter aus, und damit ein für alle mal.

Seit 1929 ist Hermann Oeser Gauredner gewesen. Im Jahre 1932 wurde er aufgefordert, (da er ja von Beruf Apotheker war), als Brigade-Apotheker, also im Sanitäts-Dienst, in den Stab der SA-Brigade 15 in Itzehoe ein- und damit der SA beizutreten. Er erhielt den angeblichen Dienstgrad eines SA-Standartenführers. Erst im Jahre 1939 wurde er (zum letzten Mal!) befördert zum SA-Oberführer z.V.

In Anbetracht dessen, daß Oeser von seiner sehr starken sozialen Einstellung, seiner sog. "roten Richtung", trotz mehrfachen und energischen Stauchens in seiner untersetzten und breitschulterigen Art nie und nimmer dachte, auch nur einen Schritt abzugehen und dadurch sich selbst untreu zu werden, kam man bei der Gauleitung allmählich zu dem Schluß: diesen unbequemen "alten Kämpfer" entweder durch die Gestapo zu liquidieren oder ihn kalt-zu-stellen. Man wählte das letztere und behielt sich das erstere vor.

In der Praxis sah dies so aus, daß Oeser nach den erfolglosen Redeverboten usw. und, nachdem er schon seit dem Jahre 1931, also 2 Jahre vor der sog. Machtübernahme (!), kein politischer Leiter mehr war und wurde, und damit keine besondere Machtstellung, keinen besonderen Einfluß mehr hatte, ferner daß er vom Jahre 1939, nachdem er schon seit 1932, also 7 Jahre hindurch SA-Standartenführer (rangangeglichen) war, bis zum Schluß als SA-Oberführer z.V. überhaupt nicht mehr befördert worden ist, sondern bewußt stets übergangen wurde!

Damit steht fest: Oeser war bereits vor dem zweiten Weltkriege bei dem Gau und in der SA praktisch abgeschrieben! Sein schonungsloser und allzeit unerbittlicher Kampf gegen jeden Deutschen - ob er nun innerhalb oder außerhalb der Partei war, ob hoch oder niedrig, und welche Stellung er auch besaß -, der gegen den wahren Sozialismus verstieß, machte ihn, den Alten, höchst unbeliebt und damit unerwünscht. Interessant ist, daß es ganz besonders die kapitalistischen Kreise und die ns. Intelligenz waren, die zum Minimum auf die Kaltstellung ihres Gegners Oeser hinarbeiteten und es ja schließlich auch erreichten!" [94]

Nach einem Exkurs zu Oesers christlicher Grundhaltung - man dürfe sich von seinem Kirchenaustritt nicht irritieren lassen! - führte Müller-Brockmann unter C. 1) die Frage von Oesers innerlichem Abrücken vom Nationalsozialismus aus:

"Insbesondere fehlte ihm jedes Verständnis für die Auswirkungen des Einflusses ns. Haltung und Ideen, wie z. B. untolerante Verfolgung Andersdenkender, übersteigerte und unmenschliche Judenverfolgung, auch der Mischlinge, politisches Soldatentum usw. Herr O. sah vielmehr in ihnen eine undeutsche Art, ein unwürdiges Verhalten durch die Mißachtung jeglicher Menschenwürde, Verkehrung aller sittlichen Werte und Knechtung aller wahren inneren und äußeren Kultur. Wenn Oeser beispielsweise auch nie ein Judenfreund war, so hat


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[Abb. 18: Bescheid der Hamburger Entnazifiezierungsbehörde vom 12.6.1952]

er doch stets die Lösung der Judenfrage durch den NS in einer für das In- und Ausland nicht angreifbaren, vornehmen und fairen Art und Weise gewünscht und gefordert. Auch dies ist ein Nachweis für die Anständigkeit des Menschen Oeser. [...]

Seit langen Jahren vor dem Zusammenbruch im Jahre 1945 war die Mitgliedschaft des Herrn O. zur NSDAP praktisch nur eine Formalie.

Kalt gestellt, nur noch gerade geduldet, laufend überwacht, immer wieder gemaßregelt und bedroht, stand Hermann Oeser mit einigen wenigen anderen alten Kämpfern gezwungenermaßen im NS der Praxis abseits des Wirkungsfeldes der Partei und des Staates, kurz: des NS.-Regimes. Dies ist eine unbestreitbare Tatsache [...] und es ist bezeichnend, daß Oeser nicht etwa von der Partei aus vom Wehrdienst während des Krieges freigestellt wurde, sondern lediglich in seiner Eigenschaft als Apothekenbesitzer (einziger) auf der Veddel." [95]

Unter dem Punkt IV - Gesamtwürdigung - setzte Müller-Brockmann dann die aufgestellten Behauptungen zu einem Gesamtbild zusammen:

"Die Verhandlung und Beweisaufnahme wird ergeben, daß Oeser weder als Aktivist noch als Nutznießer zu bezeichnen ist. [...] Von der ganzen Politik will der heute maßlos enttäuschte und verbitterte Oeser nichts mehr wissen, er lehnt auch fürderhin jede Äußerung über Politik prinzipiell ab. Und wenn man ihn danach fragt, was er heute von Hitler usw. denkt, so sagt er offen heraus, daß er sie alle abgeschrieben hat. So haben also auch bei ihm, dem al-


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[Abb. 19: Bescheid der Hamburger Entnazifiezierungsbehörde vom 6.4.1954]

ten Idealisten und Sozialisten, die Tatsachen eine hämmernde Sprache gesprochen, die ihn zu diesem Schlußurteil kommen ließen. [...]

Es ist eine Tatsache, daß es weder der Terror noch die Propaganda allein hatten schaffen können, das deutsche Volk und den Einzelnen so zu fesseln. Aber eng verzahnt miteinander betörten sie den Einzelnen und die Masse. So entstand ein pervertierter, in der Wurzel vergifteter "Idealismus" unter vielen Deutschen, dem so manche sonst brave Seele anheimfiel. Auch Oeser war durch das einzigartige System der Lüge getäuscht und geblendet, nur so konnte es kommen, daß auch er mitging, ein gefangen von einem "pervertierten Idealismus". Das hat er auch heute vollends eingesehen! Und wer da behauptet, das deutsche Volk habe die Vorgänge kennen müssen und also gekannt, der spricht zumindest in Unkenntnis der wahren Situation. Auch Oeser wußte nichts von dem Verbrecherischen, ja in seiner Wesensart und Lebensphilosophie hielt er dies auch nicht für möglich." [96]

Unter Hinweis auf ein Wort Churchills ("Laßt Vergessenes vergessen sein!" [97]) beantragte Müller-Brockmann schließlich, Hermann Oeser in die Gruppe der Entlasteten einzustufen und die berufliche Suspendierung baldmöglichst aufzuheben, "was nach Lage der Dinge und auf Grund des oben vorgetragenen Entlastungsmaterials schwerlich auf Schwierigkeiten stoßen dürfte." [98]

Man mag sich fragen, was Oeser, der "Aufrechte", wohl über diese lange und bizarr konstruierte Begründung gedacht haben wird, negierte sie doch genau


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jene Person und die "Bewegung", denen er seit 1921 mit großer Bereitwilligkeit gefolgt war: Hitler und die NSDAP.

Müller-Brockmanns Begründung war eine unglaublich dreiste Konstruktion, die mit einem simplen Schema operierte: in der Gegenüberstellung von Oeser und der Partei waren die Divergenzkriterien nach eindeutigen Oppositionen verteilt. Naivität traf auf Berechnung, Ehrlichkeit auf Durchtriebenheit, Idealismus auf Verbrechertum. Trotz seiner 2.000 Reden sei Oeser kein Aktivist gewesen, und die Funktionen als Ortsgruppen-, Kreis- und stellvertretender Gauleiter, die Rolle des Gau- bzw. Reichsredners, schließlich die SA-Ränge - alles das sei nur äußerliche Zugehörigkeit und müsse mithin ein Irrtum gewesen sein.

Im zuständigen Hamburger Fachausschuß XII für die Ausschaltung von Nationalsozialisten verfing diese Argumentation jedoch nicht; offenbar wußte man über Oeser recht gut Bescheid. In der Verhandlung vom 1. Juni 1949 wurde der Antrag abgelehnt. Im Juni 1951 mußte Oeser schließlich auch gegen eine Entschädigung seine Apotheke abgeben, die inzwischen treuhänderisch verwaltet worden war. [99] Im November 1952 trat er dann als Teilhaber in die Bahrenfelder Strauß-Apotheke ein.

Erst nach mehreren Anläufen, die sich durch Veränderung in der Gesetzeslage kompliziert gestalteten [100], erreichte Hermann Oeser die "Korrektur" seines Entnazifizierten-Status. Am 6. April 1954 wurde er als "Entlasteter" in die Kategorie V eingestuft; zwei Wochen darauf erhielt er die Genehmigung zur Führung der Strauß-Apotheke.

Es mag angesichts der hartnäckigen Züge Oesers nicht verwundern, daß er am 2. Februar 1955 wegen der Haft in britischen Lagern ohne jegliche moralische Skrupel einen Antrag auf Kriegsgefangenenentschädigung stellte, der jedoch am 17. September 1957 abgelehnt wurde. [101]

9. "Jegliche Reeducation ohne Erfolg": vom Selbstverständnis eines "Unpolitischen"

Die Betrachtung von Hermann Oesers Leben und seiner politischen Betätigung ist außer auf der historischen Ebene auch in psychologischer Hinsicht ergiebig; leider erlaubt der zur Verfügung stehende Raum keine eingehendere Untersuchung seiner biographischen Zeugnisse unter mentalen Aspekten.

Der weihevolle Duktus und teilweise pseudo-religiöse Stil seiner Briefe und Selbstdarstellungen resultierte aus der exponierten Stellung des Agitators bzw. Sprechers für die Partei. Oesers Worten war generell eine Bedeutung zugemessen worden, die es ihm so gut wie unmöglich machte, sich als gewöhnlichen politischen Akteur zu betrachten. Auch die Fähigkeit zu Selbstkritik und Distanzierung dem eigenen Tun gegenüber war ihm verloren gegangen, so er sie denn jemals entwickelt hatte. In privaten Zusammenhängen - Familienkorrespondenz, Lebensabrissen - sprach Oeser fast ausschließlich über sich selbst und kannte nur das eine Thema: die politische Tätigkeit und seine hervorgehobene Rolle. Bereits am 10. Mai 1931 hieß es gegenüber der Mutter: "Einst wird die Weltgeschichte künden von den Männern, die Ihr [!] Volk befreiten, die


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im furchtbaren Kampf diesem Volke eine neue Weltauffassung gaben." Hermann Oeser, der Seher und Künder - im selben Schreiben sprach er tatsächlich den religiösen Aspekt seiner Selbsteinschätzung aus: "Sollte ich einmal das hohe Alter des Großvaters erreichen, dann werde ich noch vor der deutschen Jugend stehen, und den Kampf um Deutschlands Zukunft predigen. Deutschland wird nie wieder untergehen." [102]

Es scheint, als habe Oeser anfangs ständig kompensieren müssen, daß die Ideologie der NSDAP bis zum Beginn der dreißiger Jahre noch auf Desinteresse, ja teils sogar Ablehnung stieß. Um sich in seiner Überzeugung zu bestätigen, blieb nur die Nobilitierung der eigenen Rolle, was angesichts der schon im Jugendalter zu beobachtenden Tendenz zur Ent-Individualisierung unproblematisch war. Einerseits sah sich Oeser unbedingt im Vordergrund, spielte sein Tun aber im gleichen Moment herunter und stellte sich - selbst-los eben - in den Dienst der "Bewegung", des "Volkes". Als Lohn für diese Selbstaufgabe mußte dann die historische Rolle entsprechend groß sein, und wenn sie niemand sonst so einschätzte, tat er es eben selbst. In der Einleitung seiner fragmentarischen Lebenserinnerungen formulierte er daher mit überschwenglichem Pathos:

"In diesen vor mir liegenden Blättern will ich das Leben eines der ältesten Kämpfer Adolf Hitlers hier im Norden, Standartenführer Oesers, festhalten. Geschichte sind diese Männer geworden, die in fanatischem Glauben und heiliger Liebe zu ihrem Führer uns unser neues Deutschland erkämpften, ihr eigenes Ich nie achtend, dem Tode täglich in die Augen schauend. So rang auch hier im Norden unseres Vaterlandes, verlacht verspottet von seiner Umgebung ein damals unbekannter Kämpfer der gr. Idee seines Führers, um die Seelen seiner verblendeten Mitmenschen. Dieses Leben und dieser Kampf soll noch einmal vor unseren Augen erstehen." [103]

In dieser (unbewußten) Selbstaufgabe fand Oeser eine neue Identität, und er erfüllte auf ungeahnte Weise die oft in den Reden aufgestellte Forderung, die eigene Person zurückzunehmen, einzugliedern und unterzuordnen: nur das "Volksganze" zähle. Mit den zentralen Unterschied jedoch, daß bei ihm die mentale Problemlage dafür der tatsächliche Antrieb war und eben nicht die bewußte Adaption des nationalsozialistischen Konzeptes von "Individualität".

Müller-Brockmann hatte in der Schutzschrift von 1949 behauptet, Oeser wolle sich künftig jeglicher politischer Äußerungen enthalten. Die Realität sah natürlich anders aus: in den fünfziger Jahren prahlte Oeser regelrecht damit, daß er noch immer Nationalsozialist sei; wie eine Litanei repetierte er die zentralen Eckpunkte seiner Karriere - erster und letzter gewesen zu sein. So schrieb er am 22. Juli 1960 an den Buchautor Herbert Böhme: "Ich möchte mich Ihnen nun vorstellen. Kriegsfreiwilliger des ersten Weltkrieges. N S D A P Mitglied 28.6.1921. Zuletzt Reichsredner und SA Oberführer. Am 4.5.1945 als erster Hamb. Nationalsozialist von den "Befreiern" verhaftet. 6.8.48 als letzter Norddeutscher aus engl. K.Z. heimgekehrt. Jegliche "Reeducation" ohne Erfolg." [104]

Neben der Berufsarbeit machte Oeser nicht erst den Versuch einer erneuten parteipolitischen Betätigung, zumal er so die ihm zugemessene Rolle mit der


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retrospektiven Einschätzung des eigenen Tuns verbinden konnte. "Ich selbst habe mich aus der Politik vollkommen zurückgezogen", äußerte er im Oktober 1961 gegenüber einem Korrespondenzpartner. "Wenn man so Schiffbruch erlitten hat wie wir alten Idealisten, dann soll man andren wenn auch nicht besseren Menschen das Feld überlassen." [105]

Oeser sprach hier nicht aus Einsicht; er hatte sich vielmehr mit der Opferrolle angefreundet und schien nun selbst die Behauptungen aus Müller-Brockmanns Schutzschrift von 1949 zu glauben: "Zum Schluss eine Bitte. Nicht einseitig alles verurteilen, sondern auch einmal anerkennen, was die alten Idealisten wollten, deren Idealismus aber von den Verbrechern, Bonzen und Gleichgeschalteten ausgenützt wurde." [106]

Oesers Rückzug aus der Politik bezog sich aber nur auf den öffentlichen Raum - in halböffentlichen Kreisen und als Privatmensch blieb er aktiv. Intensiv kümmerte er sich nun um die Burschenschaft Rheinfranken, nahm an den Treffen teil und korrespondierte mit anderen "Alten Herren", bei denen er Verständnis für seine politischen Ansichten fand.

Daneben bezog er in den sechziger Jahren immer wieder in teils abstrusen (Leser)Briefen Stellung zu Ereignissen. Liefen im Rahmen von Fußballänderspielen die Fotografen herum, während die Nationalhymne erklang, beschwerte sich Oeser beim Sportamt des Hamburger Senates und beim Deutschen Fußballbund. [107] Hessischer Rundfunk und Dithmarscher Landeszeitung bekamen von ihm Schreiben, in denen er mit plumpen Behauptungen den Gebrauch von Fremdwörtern kritisierte ("Es gibt kein Volk, dass soviele fremde Ausdrücke in seiner Sprache duldet. Oder gehört das auch mit zur Umerziehung. Selbst der Bundeskanzler sprach neulich von dem fehlenden Nationalgefühl." [108]).

Intensiv beschäftigte sich Oeser seit etwa 1948 - zu "einer Zeit, als Ahnenforschung eigentlich nicht mehr modern, bei manchen sogar leicht anrüchig war" [109] - mit der eigenen Familiengeschichte und trug Nachweise für über 6.000 Vorfahren zusammen. [110] Als um 1960 in Dithmarschen die nationalsozialistische Aktivität des Wesselburener Schriftstellers Adolf Bartels öffentlich diskutiert wurde, der in der "Literaturwissenschaft" des Dritten Reiches mit seinem vehementen Antisemitismus eine exponierte Position eingenommen hatte, bezog Oeser mehrfach Stellung für diesen umstrittenen Landsmann. [111]

Als Hermann Oeser am 18. Januar 1969 in Hamburg starb, dürften nur noch ältere Zeitgenossen etwas von seiner politischen Betätigung gewußt haben. Bereits zu Lebzeiten wurde die Verbindung zum Nationalsozialismus vertuscht; so charakterisierte die Dithmarscher Landeszeitung ihn in einem Artikel zum Jubiläum des vom Vater gegründeten Geschäftes als jenen Mann, "der durch seine plattdeutschen Reden und durch die Pflege seiner Heimatsprache in weiten Kreisen Dithmarschens bekannt ist." [112] Über den wahren Hintergrund dieser Reden gab es keine Informationen.

Betrachtet man Hermann Oesers Rolle innerhalb des Propagandaapparates der NSDAP aus der historischen Distanz, lassen sich an seiner Karriere Bedingungen und Regeln der nationalsozialistischen Agitation beobachten. Am konkreten Fall wird deutlich, daß neben den offenbar eher schlichten Inhalten der Reden externe Faktoren wie die un-


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gewöhnliche Sprachwahl und der Rahmen des Auftretens maßgeblich die Effekte beim Publikum beeinflußt haben. Seine diesbezügliche Sonderstellung unter den NS-Agitatoren gab ihm so die Möglichkeit zu einer breiteren Wirkung, wie er sie als eher durchschnittlicher Akteur im Getriebe der nationalsozialistischen Propagandatätigkeit ansonsten wohl kaum hätte erreichen können.

10. Anmerkungen

1. Hierzu zählen im Bestand des schleswig-holsteinischen Landesarchives neben Akten zum politischen Geschehen der Weimarer Zeit (wichtig Abt. 309: Stand der nationalsozialistischen Bewegung im Regierungsbezirk) vor allem die Berichte über die Versammlungstätigkeit rechts- bzw linksradikaler Organisationen und Verbände (Abt. 301/4690, 4691), die im Auftrage des Regierungspräsidenten für allen schleswig-holsteinischen Landkreise monatlich anzufertigen waren, ferner die in Itzehoe als erstes parteieigenes Blatt Norddeutschlands erscheinende Schleswig-Holsteinische Tageszeitung (ab 1929) sowie die Berichterstattung anderer Zeitungen.

2. Vgl. die Dokumente bei Albrecht Tyrell (Hrg.), Führer befiehl... Selbstzeugnisse aus der 'Kampfzeit' der NSDAP, Düsseldorf 1969.

3. Bislang existiert hierzu keine statistische Erhebung und Auswertung. Die Beobachtung mag zwar dadurch beeinflußt sein, daß seit Januar 1929 die partei-eigene Schleswig-Holsteinische Tageszeitung verstärkt über NS-Veranstaltungen berichtete, wohingegen die bürgerliche Presse solche Informationen vorher teils unterdrückt hatte. Die in Anmerkung 1 erwähnten Akten des Landesarchives Schleswig stützen jedoch den Befund einer intensivierten NS-Agitation.

4. Vgl. hierzu Rudolf Rietzler, "Kampf in der Nordmark". Das Aufkommen des Nationalsozialismus in Schleswig-Holstein, Neumünster 1982.

5. März 1928: 37, Januar 1929: 140 Ortsgruppen. Vgl. Rietzler 1982, S. 425.

6. Vgl. hierzu Gerhard Stoltenberg, Politische Strömungen im schleswig-holsteinischen Landvolk 1918 - 1933, Düsseldorf 1962; Michelle Le Bars, Le Mouvement paysan dans le Schleswig-Holstein: 1928 - 1932, Bern, Frankfurt, New York 1986.

7. Tyrell 1969, S. 257 - 260; Zitat 258. Reinhardt wollte zugleich für den von ihm eingerichteten Redner-Lehrgang werben, aus dem er eine feste Redner-Schule entwickelte; vgl. auch das Dokument 100b.

8. Es liegen kaum biographische Untersuchungen zu den Agitatoren vor; vgl. einstweilen die Autobiographien von Hans Beeck (Meine politischen Erinnerungen. Unveröff. Typoskript) und Martin Matthiessen (Erinnerungen aus der ersten Hälfte des XX. Jahrhunderts, Meldorf 1980). Zu Böhmcker vgl. Lawrence D. Stokes, Professionals and National Socialism: The Case Histories of a Small-Town Lawyer and Physician, 1918 - 1945. In: German Studies Review Vol. 8, October 1985, S. 449 - 480 bzw. ders., Böhmcker, Johann Heinrich Adolf. In: Biographisches Lexikon für Schleswig-Holstein und Lübeck Bd. 9, Neumünster 1991, S. 61 - 65.; zu Lohse vgl. Rietzler 1982, passim. Zu Paul Schneider bereite ich selbst eine umfassendere Untersuchung vor.

9. Verlautbarung der Propaganda-Abteilung der NSDAP München vom 24.12.1928, zitiert nach dem Abdruck bei Tyrell, S. 255 - 257.

10. Matthiessen 1980, S. 102.

11. Vorwärts zum Sieg! Mit dem letzten Einsatz in den Entscheidungskampf. In: Schleswig-Holsteinische Tageszeitung 2.3.1932 (vgl. Abb. 1). Die genannten Zahlen dürften aus propagandistischen Gründen überhöht sein.

12. Hinweise auf die unterschiedlichen Veranstaltungstypen finden sich in den einschlägigen Quellen und Zeitungsberichten; vgl. Anm. 1.

13. Vgl. Kay Dohnke: "Plattdeutsch als Waffe im politischen Kampfe". Anmerkungen zur Verwendung des Niederdeutschen in nationalsozialistischer Agitation und Propaganda. In: ders. u.a. Hrg., Niederdeutsch im Nationalsozialismus, Hildesheim 1994. S. 149 - 206; zu Kummerfeldt S. 155ff. und passim.

14. Zwischenzeitlich konnte ich den rudimentären "politischen" Nachlaß Oesers auswerten, der aus zwei Ordnern mit Zeitungsausschnitten, Fotos und Dokumenten sowie einem Album mit eingeklebten Presseartikeln besteht und sich in Familienbesitz befindet. Da dieses Material nur schwer zugänglich ist, wird im folgenden ausführlicher daraus zitiert, als es sonst üblich sein mag. Generell werden Orthographie und Zeichensetzung der Quellen trotz zahlreicher Fehler unverändert übernommen; lediglich die häufig auftretende Sperrung bestimmter Wörter erscheint hier in kursiver Schrift.

15. Vorhanden ist die originale Geburtsurkunde sowie eine Abschrift davon.

16. Fragmentarischer Lebensabriß, S. 1. Offenbar hat Oeser das Typoskript nicht selbst angefertigt, da es neben zahlreichen Tippfehlern auch die inkorrekte Namensschreibung Herrmann aufweist.

17. Brief an die Mutter, Wels 25.3.1942.

18. Brief an die Eltern, Adelheide 5.12.1947.

19. Wie Anm. 16, S. 2.

20. Wie Anm. 16, S. 2.

21. Tiedemann an Oeser, 10.12.1915.

22. Zeugnis der Reife der Kaiser-Karl-Schule Itzehoe vom 14. Februar 1919, "zuerkannt auf Grund eines Ministerialerlasses vom 8. Februar 1919. Die Zensuren sind die des Versetzungszeugnisses nach Prima."

23. Wie Anm. 16, S. 4.


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24. Zwar stammt der zitierte Lebensabriß zweifellos aus späteren Jahren; gleichwohl dürften die beschriebene Stimmung authentisch wiedergegeben worden sein.

25. Wie Anm. 16, S. 4.

26. Einen weiteren ideologischen Einfluß in der Kindheit nannte Oeser in einem Brief an die Mutter vom 25. März 1942 mit dem Hinweis auf den "alte[n] Großvater, der mir in der Jugendzeit die Liebe zum Soldatentum gab".

27. Die Heirat fand am 16. November 1923 statt.

28. Vgl. die Immatrikulationsbelege und das Abschlußzeugnis im Nachlaß.

29. Im Zeugnis des Harburger Apothekers Oskar Gergs über Oesers Assistentenzeit vom 31.12.1930 heißt es: "Leider bin ich durch die Notverordnung gezwungen mein Personal zu verringern und ist hierauf die Kündigung zurückzuführen".

30. Im Rahmen des Entnazifizierungsverfahrens wurde 1949 darauf hingewiesen, Oeser habe "schon mit einer Konzessionsberechtigung von nur 8 3/4 Jahren eine Apotheke in Veddel erhalten, während das übliche Berechtigungsalter 20 - 25 Jahre beträgt. Er ist daher unbedingt als Nutznießer der Partei anzusehen."

31. Versicherungsamt Hamburg an Hermann Oeser, 21.12.1936.

32. Oeser hat diese Auszeichnung in die Liste seiner Propagandareden eingetragen, was darauf hindeutet, wie wichtig ihm dieses Ereignis war; zur genannten Liste vgl. Anm. 40.

33. Brief an die Mutter, Wels 25.3.1942.

34. Manuskript Eingesandt! mit dem offenbar später hinzugesetzten Vermerk "Juni 1921 Burger Zeitung". Hinweise auf das juristische Nachspiel finden sich bei: es., Ein alter Parteigardist kam nach Hamburg. In: Hamburger Tageblatt 29.6.1934.

35. Beide Zitate aus einem Brief an die Mutter, Albersdorf 10.5.1931.

36. Alle Angaben sind aus verschiedenen Nachlaßdokumenten zusammengestellt; eine Überprüfung im Berlin Document Center konnte noch nicht vorgenommen werden.

37. Vgl. den entsprechenden Eintrag in der Liste der Reden (wie Anm. 40).

38. Otto Lüdke an Hermann Oeser, Tübingen 11.5.1929: "Mit Interesse habe ich im ersten Brief von Ihrem Pattensener Auftreten gelesen, um im letzten Schreiben zu erfahren, dass Sie von der Leitung und jeder politischen Betätigung zurückgetreten sind." - Otto Lüdke an Hermann Oeser, Marburg 9.9.1930: "Was macht Ihre Rednertätigkeit? Im Landgebiet oder im Stadtgebiet? Wie stellt sich jetzt Ihr Chef dazu?" - Inwieweit der Rückzug Oesers aus NSDAP-Funktionen mit der zeitgleich stattfindenden Umorganisierung der Parteistruktur - Neueinteilung von Gauen, Kreisen, Bezirken - oder parteiinternen Auseinandersetzungen zusammenhängt, in die Oeser aufgrund seiner Tätigkeit im Uschla verwickelt worden sein könnte, wäre durch Studium der entsprechenden Aktenbestände noch näher zu untersuchen. Zu Veränderung in der niedersä chsischen NSDAP vgl. Jeremy Noakes, The Nazi Party in Lower Saxony 1921 - 1933, Oxford 1971, S. 139ff.

39. Schreiben des Anwaltes Dr. Hans Frank an den Verband deutscher Apotheker, München 22.10.1928, Bl. 1 - 2. Frank war zu jener Zeit ein führender NS-Aktivist und hatte kurz zuvor den Bund Nationalsozialistischer Juristen gegründet.

40. Zitat aus es., Ein alter Parteigardist kam nach Hamburg (wie Anm. 34). Im Nachlaß Oesers existiert eine Aufstellung mit dem Vermerk "Meine Versammlungen", die jeweils Datum, Ort und Zuhörerzahl seiner Redeauftritte sowie für den späteren Zeitraum auch die Art der Veranstaltung verzeichnet. Stichprobenartige Überprüfung hat jedoch vereinzelt Differenzen zwischen diesen Notizen und Presseberichten zu den Auftritten ergeben. Laut dieser Liste hielt Oeser bis Ende 1930 80 Reden bis Jahresende, 110 für den Zeitraum bis zum Umzug nach Albersdorf Anfang Februar 1932.

41. So die Vermerke in der Oeserschen Liste. Entsprechende Angaben enthält auch der in Anm. 34 genannte Artikel des Hamburger Tageblattes. Weiter heißt es dort: "im Dezember 1932 war er [Oeser] angeklagt wegen "Körperverletzung" (viele SA-Männer wissen von diesen "Anklagen") aber auch hier kam er durch die Amnestie gerecht davon."

42. Zu Reden im Zusammenhang mit dem Winterhilfswerk vgl.: Eröffnungsfeier des WHW in Billwärder. In: Bergedorfer Zeitung 13.10.1936; J.: Sammlung für das WHW mit SA-Oberführer Oeser. In: Frontnachrichten der SA-Standarte 15, April 1941.

43. In einem Bericht über einen Auftritt Oesers vor den Kulturwarten der SA-Standarte 31 vom Februar 1939 heißt es, er habe in seiner Eigenschaft als Kultur-Sachbearbeiter der SA-Brigade 12 gesprochen; bisher liegt für diese Funktion kein weiterer Beleg vor (Kulturelle Betreuung der Altonaer SA. In: Hamburger Tageblatt vom 2.2.1939).

44. Oeser erhielt folgende (parteiinterne) Auszeichnungen: Ehrenzeichen der NSDAP Gau Ost-Hannover 15.7.1933, Berechtigung zum Tragen der Traditionsnadel alter Kämpfer 17.10.1933, Ehrenkreuz der Frontkämpfer 30.1.1935. Urkunden hierzu sind im Nachlaß vorhanden.

45. Matthiessen 1980, S. 93. Laut Noakes 1971, S. 203 durften nur Besitzer eines solchen Ausweises außerhalb ihres eigenen Gaues auftreten.

46. Wie Anm. 40. Die Aufstellung bricht mit dem 28.6.1942 und dem Hinweis auf die 1423. Versammlung ab; nachfolgende Reden sind nur gelegentlich und summarisch vermerkt. Der Eintrag "23. [2.1943] Torpedodepot bei Paris" hat den Vermerk "2000"; unklar ist, ob sich dies auf die Zahl der Zuhörer oder den 2000. Auftritt Oesers bezieht. Später jedenfalls spricht er stets von mehr als 2.000 Reden, die er gehalten habe, wobei sich in einem Brief vom 27.9.1959 sogar die Behauptung findet, es seien "fast 3000 Versammlungen" gewesen (wiederholt im Schreiben an einen Dr. Lorenz vom 10.10.1961). Diese Angabe ist jedoch unglaubwürdig, denn allein zeitlich hat Oeser zwischen Februar 1943 und Mai 1945 keine 1.000 Reden halten können.

47. Es wäre wenig ergiebig, anhand von Tageszeitun-


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gen überprüfen zu wollen, inwieweit Oeser während dieser Zeit doch propagandistisch tätig war, denn es gehörte zeitweilig zur Politik der nicht-parteigebundenen Presse, die Veranstaltungen der NSDAP in ihrer Berichterstattung zu ignorieren. Oesers geringe Aktivität im Jahre 1929 ist insofern verwunderlich, als gerade in jenem Zeitraum auch in Niedersachsen die Propaganda stark intensiviert wurde; vgl. Noakes 1971, S. 89ff.

48. Die Besucherzahlen entsprechen den überlieferten Werten für Veranstaltungen mit anderen Rednern; vgl. etwa zu Kummerfeldt Dohnke 1994, S. 181 - 184.

49. Eine Aufstellung von Oesers Redeauftritten der Jahre 1931 bis 1933, die anhand von Pressedurchsicht entstand und nur zum Teil durch seine Aufzeichnungen ergänzt wurde, ist zusammengestellt bei Dohnke 1994, S. 184 - 187.

50. Schleswig-Holsteinische Tageszeitung 2.3.1931. Oesers intensive Rednertätigkeit ging bald zu Lasten seiner beruflichen Verpflichtungen. Am 7. Oktober 1931 erhielt er daher von seinem Kieler Apotheker-Kollegen Oskar Rafalski einen wohlgemeinten Hinweis: "Unsere gestrige Unterredung erinnert mich daran, daß ich Ihnen ganz persönlich und vertraulich eine Warnung zufließen lassen wollte. Mit sehr großem Vergnügen und Interesse habe ich durch meine Verwandten in Dithmarschen und andere Bekannte gehört von Ihrer erfolgreichen Tätigkeit für die Partei und die Idee; mir ist aber dabei auch erzählt worden, daß Sie im Einverständnis mit Ihren Aerzten in Albersdorf die Apotheke ohne Vertreter lassen und einfach schließen, wenn sie z. B. Abends in näherer oder weiterer Umgebung Vortrag halten. Ganz ohne Hintergedanken ist dabei erwähnt: hoffentlich geht das immer gut [...].

Ich möchte Ihnen doch zur Vorsicht raten. Die Gegenpartei könnte Sie doch unangenehm hereinlegen, könnte z. B. zu einer ihr bekannten kritischen Stunde eine dringliche Verordnung auswärtiger Aerzte nach der Albersdorfer Apotheke dirigieren! Das Weitere brauche ich Ihnen nicht auszumalen." Rafalski riet Oeser, sich doch wegen der Vertretung an den Heider Kollegen zu wenden.

51. SA-Kundgebung in Wilster. In: Wilstersche Zeitung 14.7.1932 (vgl. Abb. 10). Die Zeitungsberichte geben die plattdeutsch gehaltenen Reden oft in hochdeutscher Sprache wieder. Das plattdeutsche Zitat lautet in der Übertragung: 'Rührt die Hände, zerschneidet den Bann/die Bänder!'

52. "in dieser Muttersprache spreche ich nun Abend für Abend zu dem deutschen Menschen. Und warum spreche ich platt? Weil einer in unsere Muttersprache viel mehr hineinlegen kann. [...] Denn unsere Muttersprache ist das große Band zu Blut und Boden." Hermann Oeser: Ut en Red in en Hamborger Volksversammeln. In: Fehrs-Gilde (Hrg.), Plattdütsche Reden, Kiel 1935, S. 108.

53. "Da draußen im Schützengraben, da war das alles einerlei, was ein Mann war und ob er etwas hatte, er war Deutscher, er war mein Kamerad und ihm mußte geholfen werden, an nichts anderes wurde gedacht! Diese Kameradschaft, das war der Anfang von dem Nationalsozialismus". Oeser 1935, S. 109. Der Redetext stammt zwar von 1935, aber durch Zeitungen ist belegt, daß die Argumentation auch schon früher entsprechend aufgebaut war.

54. In Oesers Aufstellung (wie Anm. 40) findet sich nur der Vermerk "Apotheker".

55. Hermann Oeser bei der Ortsgruppe Bergedorf-Brink. In: Bergedorfer Zeitung 27.9.1935.

56. Früher betrogen - heute gleichberechtigt. Standartenführer Oeser sprach zum Hafen. In: Gaunachrichten November 1936.

57. SA.-Standartenführer Oeser-Hamburg in Danzig. In: Danziger Neueste Nachrichten 12.3.1937.

58. Der Tag des deutschen Volkstums. In: Hamburger Fremdenblatt 23.9.1935.

59. In Oesers Nachlaß findet sich ein auf den 14.1.1939 datiertes Schreiben der Hamburger Firma Rhenania Ossag "Zum Aushang und an alle Abteilungen", in dem es zur Vorbereitung seiner Rede am 16.1.1939 heißt: "Alle Gefolgschaftsmitglieder müssen um 16.15 Uhr unumgezogen im Saal pünktlich versammelt sein. Das Umziehen ist erst nach Schluss der Betriebsversammlung gestattet. Es wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es nicht mehr angängig ist, dass in den Vorräumen eine Vorversammlung in Form eines Tabakkollegiums stattfindet, was auf den Redner unbedingt einen schlechten Eindruck machen muss."

60. Die genannten Auftritte sind Oesers Liste für den Zeitraum 1935 entnommen.

61. h.: Großdeutschland, Schritt gefaßt. Betriebsappell in den Räumen des Gefolgschaftshauses des Fliegerhorstes Delmenhorst. In: Delmenhorster Kreisblatt 9.3.1941.

62. Typoskript der Rede vor der Hamburger Ortsgruppe Rückert der NS-Frauenschaft vom 20.6.1935, S. 3f.

63. Wie Anm. 56.

64. Wie Anm. 62, S. 3 und 4f.

65. Wie Anm. 62, S. 6.

66. In einem Brief an den niederdeutschen Schriftsteller Rudolf Kinau vom 28.8.1954 fügt Oeser seiner Unterschrift den erläuternden Zusatz "fröher de plattdütsche Volksredner" an.

67. Oeser sprach in Curslack. In: Bergedorfer Zeitung 5.2.1936.

68. Ein "Alter" kommt auf Besuch. In: Harburger Nachrichten 9.11.1935.

69. Der Text dieser Ansprache ist abgedruckt in dem Band Plattdütsche Reden (Oeser 1935, wie Anm. 52).

70. NSDAP Ortsgruppe Adler (Barmbek-Nord) an Hermann Oeser, 11.8.1935.

71. Otto Ruth an Hermann Oeser, Pinneberg/Thesdorf 30.11.1935. Die zitierte plattdeutsche Aussage lautet in der Übertragung: "Das war aber ein Kerl, der hat unser Herz aber ordentlich umgekrempelt, der muß bald mal wiederkommen!"

72. NSDAP-Ortsgruppe Hopfenmarkt (Kreis Innenstadt) an Hermann Oeser, Hamburg 4.3.36.

73. Gaustudentenbundsführer H. Weber an Hermann Oeser, Harburg-Wilhelmsburg 24.4.36. Weber bezog sich vermutlich auf Oesers Buxtehuder Rede vom 22.3.1936.


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74. Ferdinand Böttcher an Hermann Oeser, Buxtehude 12.2.1936. ("Ihr Vortrag gestern abend bei Jan Brand hat mir sehr gefallen, das gibt Vertrauen, so eine Sprache, die aus dem Herzen kommt, versteht auch der einfache Arbeitsmann. Ich bitte Sie, recht bald mal wieder zu kommen.")

75. Alfred Hartmann: Die Partei im Kriege. In: Harburger Kreiskalender 1941. S. 113 - 114, Zitat S. 114.

76. Es handelt sich bei dieser Kategorisierung um eine eher am speziellen Fall Oesers und regionalen Beobachtungen orientierte Einteilung, die aber keine allgemeine Gültigkeit beansprucht.

77. Halstenbek. Kundgebung der Partei. In: Pinneberger Tageblatt 4.12.1940. Oesers Rede hatte am 29.11. stattgefunden.

78. Vgl. Anm. 61.

79. Entsprechend lautete auch die Schlagzeile des Berichtes in der Winsener Zeitung 18.1.1943.

80. St.: Für Freiheit, Recht und Brot! Großkundgebung der NSDAP., Ortsgruppe Heide. In: Heider Anzeiger 30.10.1942.

81. Hermann Oeser sprach in Westfrankreich. In: Hamburger Tageblatt 7.3.1942.

82. Pflichterfüllung bis zum Letzten. Betriebsappell des Luftwaffenstandortes Amsterdam. In: Quelle unbekannt, evtl. Deutsche Zeitung in den Niederlanden, zitiert nach dem Ausschnitt in Oesers Nachlaß.

83. Alle Zitate aus: bz., Führergeburtstagsfeier in Brüssel. In: Brüsseler Zeitung 21.4.1942.

84. Brief an die Eltern, Ost-Luga 16.3.1943.

85. Wie Anm. 40 bzw. 46.

86. Wie Anm. 61.

87. Hermann Oeser: Mein Leben nach Deutschlands Zusammenbruch. Typoskript, 5 ungezählte Seiten.

88. Wie Anm. 87, passim.

89. Grundsätzlich muß die Funktionalität des Konzeptes einer gemeinsamen Internierung politischer Aktivisten hinterfragt werden, nicht zuletzt auch aus dem Grund, daß sich gezeigt hat, wie stark die ehemaligen Mitstreiter in der Solidarität gegen die jeweilig internierende Instanz an ihrer Ideologie festhielten.

90. Wohnungsabteilung der Ortsdienststelle Veddel an Hermann Oeser, Hamburg 27.7.1945.

91. Gesundheitsverwaltung der Hansestadt Hamburg an Hermann Oeser, Hamburg 19.11.1945. Die Schreiben hinsichtlich der Suspendierung wie des Entzuges der Betriebserlaubnis datieren vom selben Tag.

92. Die Einstufung in diese Gruppe wurde in Entscheiden vom 20.4.1949 und vom 13.5.1950 festgelegt.

93. In seiner Liste (vgl. Anm. 40) vermerkte Oeser Redeverbote mit den Datumsangaben 6.6.1935, 6.7. - 20.8.1938 sowie 19.7. - 25.8.1939. Die anderen fünf genannten Redeverbote sind nicht belegt.

94. Schriftsatz des Dr. jur. Müller-Brockmann vom 30.5.1949, S. 4 - 9.

95. Wie Anm. 94, S. 12f.

96. Wie Anm. 94, S. 20.

97. Wie Anm. 94, S. 21.

98. Wie Anm. 94, S. 21.

99. Aus den Einkünften war Oesers Frau mit einem geringen monatlichen Betrag unterstützt worden.

100. Während ein Berufungsverfahren lief, veränderte das Entnazifizierungsabschlußgesetz vom 10.5.1950 die Rechtsgrundlage. Mit Anträgen auf Beseitigung unbilliger Härten vom 30.6.1950, 16.1.1951 und 30.6. 1951 versuchte Oeser gegen die Entscheide vorzugehen; der letzte Antrag wurde am 20.7.51 abgelehnt.

101. Bescheid des Bezirksamtes Altona, Abschnitt für Kriegsgefangenenentschädigung im Nachlaß.

102. Brief an die Mutter, Albersdorf 10.5.1931.

103. Wie Anm. 16, S. 1.

104. Hermann Oeser an Herbert Böhme, 22.7.1960. Dieser Brief war eine zustimmende Reaktion auf Böhmes Buch "Bekenntnisse eines freien Mannes" (München 1960).

105. Hermann Oeser an Dr. Lorenz, 10.10.1961.

106. Wie Anm. 105.

107. Zu Hermann Oesers Brief an den Hamburger Senat ist nur das Antwortschreiben vom 11.5.1959 erhalten; Hermann Oeser an den Deutschen Fußball-Bund, 27.4.1960.

108. Hermann Oeser an das Magazin der Woche (Hessischer Rundfunk), 22.3.1961. Vom Schreiben an die Dithmarscher Landeszeitung ist nur die Antwort vom 13.8.1959 erhalten.

109. Demnächst nach Kopenhagen. 2183 Ahnen erforscht - Aelteste Urkunde aus dem Jahre 1403. In: Dithmarscher Landeszeitung 18.7.1952.

110. Marquard Oeser wurde 1510 in Buchholz geboren. In: Dithmarscher Landeszeitung 21.4.1962.

111. Mehrfach äußerte sich Oeser in Briefen abfällig über die Kritik des Kultusministers Osterloh an Bartels; der Minister könne wegen dieser Haltung nicht im Klaus-Groth-Museum sprechen. Hermann Oeser an Minister Osterloh, 20.11.1962: "Zum 100. Geburtstag von Adolf Bartels möchte ich Ihnen ein Gedenkblatt zusenden, das 1932 erschienen ist. Ich habe dieses an seinem 100. Geburtstag an seinem Grabe verlesen. Vielleicht kommen Sie doch noch zu der Überzeugung, dass Adolf Bartels ein guter Deutscher ist." Es handelt sich um das Gedenkblatt für Professor Adolf Bartels von Helene Höhnk, welches zu dessen 70. Geburtstag abgefaßt wurde. Oeser hatte den Text im Rahmen einer öffentlichen Feierstunde in Wesselburen verlesen (vgl. Adolf Bartels zum 100. Geburtstag,. In: Dithmarscher Landeszeitung 17.11.1962).

112. Wie Anm. 110.

Abbildungsnachweise:

Abb. 1, 2, 3 und 11: Schleswig-Holsteinische Landesbibliothek Kiel. Alle übrigen Abbildungen nach Dokumenten aus dem Nachlaß Oeser; Kopien bzw. Repros: Sammlung Dohnke, Hamburg.


Veröffentlicht in den Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte (Kiel) Heft 25 (August 1994) S. 53-98.


Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte Heft 25

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