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Kleinstadtchronik – ohne Tabus, aber mit Lücken

Kellinghusen – in Mittelholstein an der Stör gelegen – ist seit 1877 Stadt. Seine Ursprünge liegen viel weiter zurück: der Name Kerleggehusen wurde erstmals 1148 urkundlich erwähnt. Die 850 Jahre hat Kellinghusen demnach im vergangenen Jahr erreicht – Anlaß für eine Stadtchronik. Dies war nicht der erste Versuch zu einer Lokalgeschichte; Vorläufer gab es schon zu den Stadtjubiläen 1927 und 1952. Und auch der aktuelle Trend, sich wieder mit der Geschichte des eigenen Ortes zu befassen und damit neue Identifikationswünsche der Bürger zu erfüllen, ist an Kellinghusen nicht vorbeigegangen. So erschienen in kurzer Folge die Geschichte Kellinghusens (Hrsg. Ulrich March, 1997) und die Neuauflage des kommentierten Fotobands Das alte Kellinghusen (Hans-Wilhelm Hay, 1998).

Was ist neu an der im Auftrag der Stadt erstellten Chronik? Sie sollte zwei bislang nicht gestellte Ansprüche erfüllen. Eine professionelle Erarbeitung war gewünscht; nicht ein lokaler Laien('Heimat')forscher, sondern ein auswärtiger Historiker sollte mit der Aufgabe betraut werden. Zweitens sollte die Arbeit nicht nur wissenschaftlich profund, sondern auch bürgernah und gut lesbar sein. Nicht die herkömmliche, strikt an die Zeitachse gekoppelte Chronik – mit den Schwerpunkten Politik und Verwaltung, Wirtschaft und Verkehr – war also gefragt, sondern ein facettenreiches Geschichtsbild mit all den Themen, die aus Bürgersicht Stadtgeschehen ausmachen.

Wird die mit einiger Verspätung im Dezember 1998 vorgelegte Chronik diesen Erwartungen gerecht? Beginnen wir mit dem Anspruch an Professionalität. Die politischen Stadtmütter und -väter trugen – nach längerem Abwägen – die Aufgabe an einen Arbeitskreis schleswig-holsteinischer Historiker heran; dieser konnte als Referenzen eine Reihe zweifellos gelungener Stadtchroniken vorweisen. Ulf O. Postel, Mitglied des Arbeitskreises, übernahm den Auftrag mit einem Zeitrahmen von drei Jahren.

Die Entscheidungsträger werden gewußt haben, daß eine solche Auftragsvergabe an einen Externen nicht nur Vorteile mit sich bringt. Bei aller Professionalität ist es keinesfalls selbstverständlich, daß der auswärtige Historiker sich die lokalen Informationsquellen erschließen kann – dies insbesondere bei einer bürgernah-themenorientierten Herangehensweise (man denke etwa an das Thema Vereinsleben). Auf der anderen Seite hat der externe Autor auch einen nicht zu unterschätzenden Vorteil. Er steht – anders als ein lokaler Laienforscher – grundsätzlich nicht unter der sozialen Kontrolle der Mitbürger, kann sich also leichter über Tabus hinwegsetzen, wenn es um die Darstellung dunkler Kapitel in der Stadtgeschichte geht.

Der Autor hat diese Gratwanderung ohne Absturz, doch auch ohne überzeugenden Abschluß vollzogen. Insbesondere hat er kein durchgängiges Konzept entwickelt, um zum Erschließen nicht-öffentlicher Informationsquellen lokale Wissensträger und Mitautoren einzubinden. So hat es mindestens vier Arten von Beiträgen gegeben: in der Spannbreite von anonymer Unterstützung durch Materialzulieferung und Ent-


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wurfskommentierung bis hin zu ganzen Kapiteln, für die der Autor die Feder ohne erkennbare Einschränkung an einen anderen Verfasser abgegeben hat.

Wie ist letzteres zu erklären? Ging es hier um Themen, für die ein lokaler Wissensträger ein Informationsmonopol besaß, die Herausgabe an den 'Auswärtigen' störrisch verweigerte, ging es zum Beispiel um Vereinsgeschichte(n)? Naheliegend – aber nicht zutreffend: Tatsächlich werden in diesen Kapiteln die NS-Jahre behandelt, ihre Vorgeschichte in der Weimarer Zeit sowie die Ursprünge (und Unterdrückung) der Arbeiterbewegung. Es geht also um überwiegend dunkle Abschnitte der Kellinghusener Stadtgeschichte, Themen, für die ein auswärtiger Historiker (wenn nicht dafür, wofür sonst?) prädestiniert sein müßte: wegen seiner Autonomie gegenüber sozialer Kontrolle und wegen seiner Professionalität in der – kaum (noch) durch Wissensmonopole behinderten – Materialerschließung.

Zum zweiten Anspruch: Ausrichtung auf bürgernahe Themen. Diese ist insgesamt gut gelungen. Die Chronik lädt dazu ein, sie immer mal wieder zur Hand zu nehmen und in einzelnen Kapiteln zu blättern, sobald sich dafür durch Alltagsgeschehen, durch einen Klönschnack mit Nachbarn oder auch durch spontan aufkommende persönliche Erinnerungen ein Anlaß ergibt. Zu vielem wird man fündig, bürgernah ist die Chronik zweifellos. Der Leser findet sachkundige Berichte über frühere Stadtgeschichtsschreiber, eine lebendige Darstellung der Frühgeschichte und des Aufstiegs zu einer "blühenden Handelsstadt", vieles über die Entwicklung des Vereinslebens und zum Abschluß auch ein vielfältiges Bild des Kellinghusener Alltags in der Gegenwart.

Was fehlt? Selbst bei einer Kleinstadt-Chronik muß sich der Verfasser fragen, welche Themen er übergehen oder knapp behandeln muß, um den gesteckten Rahmen (hier 270 Seiten) noch einhalten zu können. Erfreulich ist, daß diese Auswahl nicht allein am Gefälligkeitskriterium orientiert war. Die 'politischen' Kapitel der Chronik schonen das Erscheinungsbild der Stadt keineswegs. Sie nennen die "Klein Nürnberg"-Ambitionen – die SA-Gruppe Nordmark übte hier für Reichsparteitage den straffen Gang in Zwölferreihen – der schon früh braun eingestimmten Bürgermehrheit beim Namen, und sie lassen nachvollziehen, mit welcher Geringschätzung bis hin zu tödlichem Haß die braun-schwarze Oberstadt auf die rote Unterstadt Kellinghusens, auf "Klein Moskau" hinabblickte.

Daß all dies nicht ausgespart blieb, ist Ulrich von der Trenck zu verdanken, der diesen Teil der Chronik verfaßt hat. Für das Kapitel NS-Zeit war dieser 'zugereiste' Kellinghusener Bürger sicherlich der am besten ausgewiesene Autor, hatte er doch bereits im Steinburger Jahrbuch 1996 den ersten fundiert recherchierten und tabufreien Beitrag zu "Kellinghusen unter dem Nationalsozialismus" publiziert.

Dieses Thema fehlt also nicht; bedauerliche Lücken gibt es aber an anderen Stellen. Was erzählt die Chronik über die Zuwanderung aus dem Osten in den letzten Kriegsmonaten? Kellinghusens Bevölkerung wuchs auf mehr als das Doppelte an – mit einschneidenden Konsequenzen. Neue Stadtviertel waren zu bauen, eine katholische Gemeinde entstand, Landsmannschaften der Flüchtlinge und Vertriebenen erweiterten das


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kulturelle Leben. Drängende Integrationsprobleme verlangten durchgreifende Lösungen von der Stadtverwaltung, vor allem aber auch Änderungen in Einstellung und Verhalten von jedem einzelnen Alt-Bürger. In der Chronik findet sich dazu wenig.

Auch das Kapitel "Kellinghusen nach dem Zweiten Weltkrieg" erfüllt nicht die Erwartungen. Nichts wird dort zum Umgang mit der NS-Vergangenheit gesagt. Wie hat man in Kellinghusen etwa die Nachricht von Verhaftung und Verurteilung des Gauleiters und Oberpräsidenten Hinrich Lohse – aus dem drei Kilometer entfernten Mühlenbarbek stammend – aufgenommen; wie hat man auf seine vorzeitige Haftentlassung und seinen Anspruch auf staatliche Altersversorgung reagiert?

Wie ist es in der "blühenden Handelsstadt" mit der Wirtschaftsgeschichte weitergegangen? Niedergang der Industrie, Nachkriegsboom und erneutes Schrumpfen des Baugewerbes, Bedeutungsverlust des Einzelhandel-Mittelstands, Pendeln als neue Erwerbsform für abhängig Beschäftigte, neue Selbständigkeit im Dienstleistungsbereich – geschehen ist viel, berichtet wird wenig.

Und die Kultur? Sie wird zusammen mit "Kirche" in einem Kapitel beschrieben und dort – unzeitgemäß enger Kulturbegriff – auf Detlev von Liliencron beschränkt, der hier zwischen 1883 und 1890 eine wichtige Lebens- und Schaffensphase verbrachte. Recht knapp wird auch die Stadtentwicklung behandelt, obwohl sie viel Einblick hätte bieten können: in Veränderungen des Stadtbildes, aber auch der sozialen Schichtung.

Bei aller Dankbarkeit für die Themenvielfalt: Manche Leser werden Lücken beklagen, und einige werden auch – bei einzelnen Themen – den Aussagen nicht recht zustimmen wollen. Ein Beispiel: Man liest, daß dem Lokalblatt Stör-Bote in der Jahrhundertmitte gleich zweimal ein Maulkorb verpaßt wurde, zunächst durch die NS-Reichspressekammer und nach Kriegsende durch die britische Militärregierung. Wäre ohne Vorgaben der Reichspressekammer ein objektiver, kritischer Stör-Bote erschienen? Ein Blick in die Ausgaben dieser Zeitung vor der NS-Machtergreifung – dank Steinburger Kreisarchiv jedem Bürger leicht möglich – gibt darauf eine eindeutige Antwort.

Das Fazit: Letztendlich eine erfreuliche, bürgernahe Erweiterung und Darstellung des lokalgeschichtlichen Wissens, aber kein Lehrstück, mit dem für zukünftige Fälle demonstriert werden könnte, daß ein auswärtiger Historiker als Chronik-Autor grundsätzlich eine bessere Wahl ist als eine Gruppe einheimischer Laienforscher (die sich zur Zusammenarbeit bereitfindet).

Hans H. Lembke

Ulf O. Postel (unter Mitarbeit von Richard Kolang, Herbert Lüdemann, Karl-Heinz Roll, Ulrich von der Trenck): 850 Jahre Kellinghusen an der Stör. Kirchdorf – Flecken – Stadt. Kellinghusen: Eigenverlag der Stadt 1998. 270 S.


Veröffentlicht in den Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte (Kiel) Heft 35 (April 1999) S. 99-101.


Der Rezensent: Hans H. Lembke, geboren 1947 in Kellinghusen, Dipl.-Wirtschaftsing., Dr.-Ing., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Institut für Entwicklungspolitik, Leiter des Zentrums für internationale Tests bei der Stiftung Warentest, Professor für Betriebswirtschaftslehre der kleinen und mittleren Unternehmen an der Fachhochschule Brandenburg. Er war an der Erstellung der Kellinghusener Chronik nicht beteiligt und hat erst in der Schlußphase der Entstehung von dem Projekt erfahren.


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