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Frank Omland:

Profiteure, stille Nutznießer und heimliche Helfer

Mit der Doktorarbeit von Frank Bajohr ist zwar nicht die erste regionale Einzelstudie zum Thema "Arisierung" erschienen, doch die erste mit überregionaler Bedeutung.

In sieben Kapiteln geht der Autor sowohl auf den Prozeß der Zwangsenteignung jüdischen Besitzes, seine Voraussetzungen und Auswirkungen auf die Beteiligten, als auch ihr Vorgehen und ihre Motive ein. Dabei stellt er nicht nur die Täter, sondern ebenfalls die Perspektive der Opfer und der sich als Zuschauende verstehenden Hamburger Bevölkerung dar. Bajohr wichtigsten Quellen sind die etwa 27.000 Restitutionsakten des Wiedergutmachungsamtes und die "Bestände der Devisenstelle des Landesfinanzamtes" (S. 22). Er ist dabei auf neue bzw. wenig bekannte Zusammenhänge gestoßen und konnte aufgrund eines Samples von 300 Aktenfällen eine quantitative und qualitative Analyse der "Arisierung" in Hamburg erstellen.

Bajohr beginnt seine Darstellung mit einer Beschreibung des "Radauantisemitismus" (wie er es nennt), also des "Antisemitismus 'von unten'": den Taten von SA-Männern und der Hetze des (gewerblichen) Mittelstandes zu Anfang des NS-Regimes. Er stellt dessen Funktion dar und konstatiert das Scheitern dieses "Konzeptes" in der Praxis. Seiner Meinung nach scheiterte der Versuch, mit Hilfe des April-Boykotts einerseits dem Antisemitismus aus den eigenen Reihen Luft zu verschaffen, andererseits das Feindbild "Judentum" populär zu machen, trotz der Unterstützung durch "arische" Geschäfte; die Maßnahmen gegen jüdische Läden waren ein Fehlschlag: "Weder war es gelungen, die jüdischen Geschäfts- und Firmeninhaber nachhaltig zu treffen, noch stieß die Kampagne auf besondere Sympathien der Bevölkerung." (S. 60) Eine wichtige Konsequenz aber war ein antijüdisches Stimmungsklima, welches zur vorauseilenden Entlassung jüdischer Angestellter in Unternehmen bzw. in Vorständen führte, obwohl es dazu staatlicherseits noch keine Anordnungen gab.

Laut Bajohr konnte die Hamburger Staatsführung unter Reichsstatthalter und Gauleiter Kaufmann aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit, der besonderen internationalen Lage Hamburgs ("Tor zur Welt") und außenpolitischen Rücksichtnahmen ihrem Antisemitismus keinen freien Lauf lassen. Aus kurzfristigen taktischen Überlegungen heraus wurden Eingriffe gegen jüdische Unternehmen und Geschäfte zurückgewiesen (etwa im Falle der Firma Beiersdorf AG), und erst im Zuge der wirtschaftlichen Erholung, die im "Notstands-


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gebiet" Hamburg nicht vor Mitte der 30er Jahre einsetzte, radikalisierte sich das Verhalten der staatlichen und städtischen Stellen.

Vor diesem Hintergrund muß auch die "Entjudungs"-Politik der Hamburger NS-Führung gesehen werden: Bürgermeister Krogmann versuchte sich durch fanatische antisemitische Angriffe zu profilieren und initiierte das Ausscheiden aller jüdischen Mitglieder aus dem Vorstand der Handelskammer. Gauleiter und Reichsstatthalter Kaufmann verhielt sich taktisch klüger, gab sich vor Parteigenossen und Parteileitern aggressiv antisemitisch, vor der konservativ-liberalen Hamburger Kaufmannschaft jedoch kritisch-distanziert und vorsichtig. Kaufmann überließ es damit der NSDAP und ihren regionalen politischen Leitern, sich durch Aufpassertum und Antisemitismus auszuzeichnen und die soziale Kontrolle gegenüber der jüdischen Bevölkerung auszuüben. Auf staatlicher Ebene hielt er sich hingegen bzgl. der jüdischen Unternehmer gezielt zurück, um die wirtschaftliche Lage Hamburgs durch zusätzliche Arbeitslosigkeit nicht noch stärker zu gefährden. Die ökonomische Krise bestimmte bis 1937/38 das taktische Handeln von Staat und Behörden in Hamburg: So gab es zwar für Hamburger Behörden die interne (!), mündlich weitergegebene (und gesetzwidrige) Anweisung, an jüdische Unternehmen keine Aufträge zu erteilen, aber die Behördenleiter - etwa der Wohlfahrtsbehörde - hielten sich aufgrund der Finanzknappheit nicht daran und kauften weiterhin bei jüdischen Firmen, wenn diese billiger waren als ihre "arischen" Konkurrenten. Erst nach einer reichsweiten Verordnung im April 1938 wurden jüdische Unternehmen auch in Hamburg von staatlichen Aufträgen ausgeschlossen.

Unabhängig davon begann ein schleichender Verdrängungsprozeß in manchen Berufssparten, und die NSDAP versuchte immer wieder, Druck auf die Behörden und die Handelskammer auszuüben: So versuchte sie letztere zur Herausgabe eines Verzeichnisses jüdischer Unternehmer zu zwingen, was aber bis zum Erlaß von entsprechenden Richtlinien auf Reichsebene im Juli 1938 scheiterte.

Bajohrs Fazit zu dieser Politik ist differenziert: "Eine den Reichsrichtlinien vorauseilende Erfassung jüdischer Betriebe fand somit in Hamburg nicht statt." (S. 121) "Von einer 'verspäteten' oder gar rücksichtsvollen Anwendung antijüdischer Reichsgesetze konnte in Hamburg keine Rede sein. Allerdings verschärfte Hamburgs Staatsführung die reichsweite Judenpolitik nicht" (S. 122) und stand damit in Gegensatz zu den Städten im Hamburger Umland oder zu Großstädten wie etwa München.

Hamburg war als "Notstandsgebiet" vom Reich abhängig und scheute sich deshalb, in offener Weise gegen das Reich zu opponieren. Seine Sonderstellung rührte daher, daß die Stadt "dem allgemeinen Trend zur Radikalisierung der Judenpolitik auf Regionalebene nicht folgte" (S. 123) und "der quantitative Rückgang jüdischer Betriebe bis 1938 in Hamburg zwar über 20 %, aber immer noch deutlich unter dem Reichsdurchschnitt gelegen haben muß." (S. 135)

Diese verspätete "Arisierung" in der Hansestadt hatte nichtsdestotrotz verheerende Auswirkungen auf die Betroffenen: Not und Elend machten sich unter der jüdischen Bevölkerung stark bemerkbar, und letztlich mußte die jüdi-


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sche Gemeinde große Teile ihrer Mittel für Wohlfahrtsleistungen aufbringen.

Wer konnte, versuchte sein Vermögen ins Ausland zu retten und auszuwandern. Der Staat reagierte darauf mit einem System von Steuern und Kontrollen, dessen Zweck es war, die Fliehenden finanziell völlig auszuplündern: Reichsfluchtsteuer (eingeführt 1931, aber faktisch ab 1933/34 eine antijüdische Zwangssteuer), Erschwerung des Kapitaltransfers ins Ausland, Fahndung durch Zoll- und Devisenstellen und Erpressung falscher Geständnisse, um die Vermögen konfiszieren zu können, hatten dabei Methode.

Bajohr hat über diese Phase der "Arisierungen" neue Erkenntnisse gesammelt: Der entscheidende Radikalisierungsschub sei von der Arbeit des Gauwirtschaftsberaters und der Zoll- und Devisenfahndungen der Oberfinanzdirektion ausgegangen: "Die Gauwirtschaftsberater und ihre Mitarbeiter bildeten eine spezifisch nationalsozialistische Wirtschaftselite" (S. 174) aus jungen (um die 27 Jahre alten) ideologisierten, ehrgeizigen und aufstiegsorientierten kaufmännischen Angestellten und mittleren Beamten, die auf dem Gebiet der "Arisierungen" und der "Entjudung" der Wirtschaft sich einen dominierenden Einfluß verschafften. Handelskammer und Staat überließen ihnen hier das Feld, um sich in anderen Bereichen gegen sie abgrenzen zu können. Ab 1936 konnte der Gauwirtschaftsberater sich als Instanz für "Arisierungen" etablieren und ernannte sich ohne staatlichen oder Verwaltungsauftrag quasi selbst für diese Aufgabe (S. 181). In der Praxis achtete er bei "Arisierungen" auf die politische Zuverlässigkeit des Erwerbers, wog den volkswirtschaftlichen Nutzen ab ("Arisierung" oder Liquidierung), vermied Konzernbildungen, setzte die Entlassung der jüdischen Angestellten voraus und achtete auf einen niedrigen Preis für den Verkauf.

"Bei allen Interventionen des Gauwirtschaftsberaters muß berücksichtigt werden, daß sie jeder gesetzlichen Grundlage entbehrten und allein auf dem Wege der Selbstermächtigung erfolgten. Formal konnte nämlich bis zum 26. April 1938 kein jüdischer Firmeninhaber gezwungen werden, den Verkauf seines Unternehmens genehmigen zu lassen." (S. 185)

Der zweite wichtige Schrittmacher bei der Liquidierung jüdischer Unternehmen und der Entziehung von deren Vermögen war laut Bajohr die Zoll- und Devisenfahndung: Sie konnte bei dem bloßen Verdacht auf Kapitalflucht eine faktische Enteigung des Eigentümers durchführen, die "Sicherungsanordnung", d.h. Gefängnishaft bis zur Klärung des Sachverhalts anordnen und auch sonst massiven Druck ausüben: Sie überschritt dabei ihre eigenen gesetzlichen Kompetenzen, indem bspw. die Beschuldigten über ihre Sexualpraktiken ausgefragt wurden, um gegen diese wg. "Rassenschande" vorgehen zu können, erpreßte Übereinkünfte mit fingierten Geständnissen und setzte bei den Beschuldigten voraus, daß diese einen Entlastungsbeweis zu führen hätten (anstelle eines konkreten Tatnachweises durch die beschuldigende Behörde).

Ab April 1938, so konstatiert Bajohr, setzte aufgrund von reichsweiten Verordnungen und den Ereignissen um das Novemberpogrom eine "Ausverkaufsstimmung" unter den "arischen" Erwerbern und ein Bereicherungswettlauf ein (S. 239), an dem sich die Handelskam-


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mer nun durch offene Parteinahme für "Arisierungen" und durch gesetzeswidrige Verhaltensvorschläge beteiligte. Von nun an konnten gegen den Willen des Gauwirtschaftsberaters faktisch keine "Liquidierungen" bzw. Übernahmen mehr durchgeführt werden.

Die Schnelligkeit des Prozesses nach dem Pogrom zeigt folgendes Ergebnis: "Von den rund 1.200 jüdischen Unternehmen im Herbst 1938 waren jedoch ein Jahr später faktisch keine mehr vorhanden." (S. 283) "Mit Kriegsbeginn 1939 waren die Liquidierung und 'Arisierung' der jüdischen Unternehmen in Hamburg faktisch abgeschlossen." (S. 287) Dabei hatte der Gauwirtschaftsberater die Aufgabe der "Arisierung" und Liquidierung sowie der Grundstücksenteignung übernommen und das Reich sich mit der Konfiszierung jüdischer Vermögen bereichert.

Bajohr macht zudem noch auf ein Kapitel der "Arisierungen" aufmerksam, daß bislang eher unbeachtet geblieben ist: die Grundstücksenteignungen und Hausübernahmen. Dabei wird für Hamburg deutlich, wie wichtig die Rolle des Hamburger Gauleiters und Reichsstatthalters war: Dieser ließ ohne gesetzliche Grundlage (!) alle jüdischen Häuser und Grundstücke aus Hausverwaltungen zwangsweise in eine Grundstücksverwaltung (GVG) überführen und benutzte die Gewinne dieser Gesellschaft für seine eigenen "sozialen" Zwecke: Parteigenossen wurden entschuldet und bestimmte Spenden an die NSDAP abgeführt. Nur die Tatsache, daß Hermann Göring auf Reichsebene jüdische Grundstücks- und Hauseigentümer brauchte, um schließlich Juden in sogenannten "Judenhäusern" zu ghettoisieren, führte dazu, daß bis Oktober 1939 nur 1/3 aller Grundstücke und Häuser "arisiert" wurden.

Unabhängig davon, so Bajohr, ob eine "Arisierung" halbwegs fair oder völlig ausbeuterisch betrieben wurde, blieb das Endresultat immer dasselbe: Die vollständige Ausplünderung und Enteignung des Besitzers zugunsten der Stadt Hamburg, des Reiches und des "arischen" Profiteurs.

Bajohr kommt zu dem Schluß, daß von den jüdischen Unternehmen ca. 1/3 von etablierten Wirtschaftsunternehmen und 2/3 von ehemaligen Angestellten der Firmen, Nachwuchskaufleuten, Um-/Seiteneinsteigern und Branchenneulingen sowie von NSDAP-Mitgliedern bzw. Geschäftemachern übernommen worden sind. Aus einem Sample von 300 "Arisierungen", wovon 90 % 1938 und 1939 stattgefunden haben, kommt er zu folgenden Ergebnissen:

40 % wurden von aktiven skrupellosen Profiteuren übernommen. Diese setzten dabei auf Drohungen, Erpressungen und die Einschaltung der Gestapo und weigerten sich häufig noch, ihren vertraglichen Verpflichtungen nachzukommen. Insbesonders NSDAP-Mitglieder und die "arischen" Angestellte der Firmen sind hier als Profiteure zu finden.

Ebenfalls 40 % gehören zur Gruppe der "stillen Teilhaber", die das Eigentum formal korrekt übernahmen, dabei aber die aus der Lage resultierenden persönlichen Vorteile wahrnahmen.

Knapp 20 % waren laut Bajohr gutwillige, verständnisvolle Erwerber, die angemessene Entschädigungen zahlten mit den ehemaligen Eigentümern und stille Bündnisse gegen die Nazis eingingen. In dieser Gruppe finden sich auch Einzelfälle, in denen illegal mehr als


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vereinbart gezahlt oder Geld für die Auswanderung ins Ausland geschafft wurde. (S. 319)

Anschließend geht Bajohr noch kurz auf weitere Nutznießer der "Arisierungen" ein, wie etwa Makler und Rechtsanwälte, Treuhänder und Kriminelle. Zudem deutet er die Ausbeutungsfeldzüge der Hamburger Wirtschaft in Österreich ab 1938 und in Polen sowie den Niederlanden an.

Der letzte Abschnitt gilt der Hamburger Bevölkerung, die durch Versteigerungen jüdischen Umzugsgutes (Möbel, Kleidung, Wertsachen) und dem Bezug von Wohnungen nach den Deportationen indirekt und direkt von der Ausplünderung und dem Mord an der jüdischen Bevölkerung Europas profitierten. Bajohr schließt, daß ca. 100.000 Menschen - insbesondere Frauen - davon profitiert haben und sehr wohl wußten, von wem das ersteigerte Gut stammte (S. 335f.), wobei die eigene Notlage und Sichtweise als Opfer des Bombenkrieges mit Sicherheit eine "Augen zu"-Mentalität gefördert hat.

Ein "Verzeichnis jüdischer Unternehmen, die 1938/39 'arisiert' oder liquidiert wurden", ein Personen- und Unternehmensregister sowie Tabellen schließen den Band ab, der durch einen Quellen- und Materialienanhang mit Aktenzitaten noch mehr gewonnen hätte.

Bajohr belegt mit seiner Arbeit, daß der Ablauf der "Arisierung" anders verlief, als bisher von der Forschung angenommen wurde, unterfüttert seine Ergebnisse immer wieder mit konkreten Beispielen aus der Geschichte jüdischer Hamburger Unternehmen und macht dabei bis ins Detail deutlich, wie die Profiteure solcher "Übernahmen" vorgingen. Er zeigt differenziert die einzelnen Phasen des Prozesses vor dem Hintergrund besonderer Hamburger (Wirtschafts-)Verhältnisse auf und macht deutlich, daß in Hamburg die parteiamtliche Stelle des Gauwirtschaftsberaters (von Gnaden des Gauleiters Kaufmann) die zentrale Stelle bei den "Arisierungen" und der Liquidierung jüdischer Unternehmer war. Bajohr macht auch klar, welche wichtige Rolle die Zoll- und Devisenfahndung bei der Ausplünderung jüdischer Vermögenswerte spielte und belegt eindrucksvoll, daß am Ende der "Arisierung" für die betroffenen jüdischen Eigentümer immer die vollständige Ausplünderung und Enteignung gestanden hat.

Bajohr hat ein Grundlagenwerk zum Thema "Arisierung" vorgelegt, daß auch überregional von großer Bedeutung ist.

Frank Bajohr: "Arisierung" in Hamburg. Die Verdrängung jüdischer Unternehmer 1933 - 1945. Hamburg: Christians 1997. 415 S.


Veröffentlicht in den Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte (Kiel) Heft 32 (Dezember 1997) S. 98-102.


Frank Omland, geboren 1967, ist Sozialpädagoge und in Hamburg bzw. Kiel bei der Organisation und Durchführung antifaschistischer Stadtrundgänge aktiv. Er arbeitet im Themenbereich Nationalsozialismus vorrangig zu den Aspekten Jugend, soziale Arbeit und Wahlen sowie zum Neofaschismus der Gegenwart.


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