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Frank Omland:

Auf den Spuren jüdischen Lebens in Hamburg

In alphabetischer Reihenfolge der heutigen Straßennamen werden 55 Stätten / Stationen des jüdischen Lebens in Hamburg mit Schwerpunkt auf dem 19. und 20. Jahrhundert vom Autor beschrieben. Beginnend mit Erläuterungen zur "Neuen Dammtor - Synagoge" am Allendeplatz über das "Budge-Palais" am Harvestehuder Weg 12 bis hin zum "Jüdischen Volksheim" an der Wohlersallee 58 finden sich zu vielen Aspekten der jüdischen Gemeinschaft, ihrem Leben und Leiden in der Hansestadt Zeugnisse und Lebenserinnerungen.

In einem Vorwort, "Wegweiser", nennt der Autor als Ziel der Publikation: "Dieses Buch lädt dazu ein, Geschichte und Gegenwart jüdischen Lebens in der Stadt kennenzulernen und Orte in der Stadt zu besuchen, die von diesem Leben zeugen. Damit diese Geschichte lebendiger wird, sind einzelne Abschnitte um Portraits jüdischer Einwohner der Stadt ergänzt, die an diesen Orten gewohnt und gearbeitet haben."

Es folgt ein Abriß der "Geschichte jüdischen Lebens in Hamburg" (S. 7). Das einzige Manko dieses guten Überblicks ist es, die Leserin und den Leser nicht mit der religiösen Tradition und den Ritualen des Judentums vertraut zu machen. Ich komme an anderer Stelle darauf nochmal zurück. Am Ende des "Wegweiser" steht ein programmatischer Appell: "Damit die Geschichte der jüdischen Bevölkerung nicht vergessen oder verschwiegen wird, ist es wichtig, die Orte zu besuchen, wo diese Geschichte stattgefunden hat. Ebenso wichtig, ja wichtiger ist es, mit den jüdischen Menschen in unserer Mitte ins Gespräch zu kommen. [...] Jüdisches Leben in Hamburg - das ist ein Thema mit Vergangenheit und mit Zukunft." (S. 11).

Jeder Artikel wird eingeleitet durch


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eine sehr kleine Fotovignette, die später nochmal in normalem Format wieder aufgenommen wird. Es folgen Erläuterungen zu "Standort", "Wegbeschreibung", eventuellen "Besuchsmöglichkeiten / Öffnungszeiten", "Historischen Orten in der Nähe", "Zusätzliche Hinweise" und "Zum Weiterlesen". Dann beginnt der eigentliche, zumeist zwei bis drei Seiten umfassende Text, der durch Fotos und thematische bzw. biographische Kästen ergänzt wird.

Um es vorweg zu nehmen: Frank Kürschner-Pelkmann schafft es in dem 192seitigen Stadtführer, große Teile des Spektrums des jüdischen Lebens nachzuzeichnen - angefangen von ersten Zeugnissen im 17. Jahrhundert (Friedhöfe in Altona, am Grindel, in Harburg und in Ottensen) über das 18. und 19 Jahrhundert (Formen des bürgerlichen Lebens, etwa vom kaisertreuen Großreeder Albert Ballin, dem Komponisten und Dirigenten Gustav Mahler oder der Pädagogin Johanna Goldschmidt) bis ins 20. Jahrhundert mit der Assimilation und Integration in der Weimarer Zeit (Familie Warburg oder der Finanzbeamte Leo Lippmann sowie die Malerin Anita Rée) und der Verfolgung, Terrorisierung und Ermordung im NS-Staat (Vertreibung des Unirektors Cassirer, Zerstörung der Hauptsynagoge am Bornplatz, Deportationen vom Hannöverschen Bahnhof aus).

Lücken bestimmen sich weitestgehend durch mangelnde Quellen bzw. fehlende Veröffentlichungen, nicht durch das insgesamt profund zusammengetragene Wissen des Autors, das den Stadtführer sehr lesens- und empfehlenswert macht. Nichtsdestotrotz möchte ich einige Bemerkungen zu Schwachpunkten machen.

Oben habe ich schon darauf hingewiesen, daß es an Erläuterungen zur jüdischen Religion(spraxis) fehlt. Dies kann meines Erachtens zu unnötigen Begriffsunklarheiten auf Seiten der Leserin und des Lesers führen, die durch ein Glossar oder entsprechende Einführung im "Wegweiser" hätten ausgeräumt werden können. So heißt es: "Die Neue Dammtor - Synagoge wurde von einem Verein der konservativen Juden getragen, die die Polarisierung zwischen Orthodoxen und Reformern überwinden wollten und für gemäßigte Erneuerung des geistlichen Lebens eintraten. Die Gitter der Frauenempore hatten nur eine Höhe von 30 cm, waren also eher symbolischer Art." (S. 13).

Verstehbar ist dieser Abschnitt aber nur dann, wenn irgendwo etwas zur Rolle von Frauen und Männern in der Religion gesagt und nicht stillschweigend das Wissen darum bei den Leserinnen und Lesern vorausgesetzt wird. Ebenso schwierig ist es bei Sätzen wie diesem: "Trotz aller Bedrängnis und Gefahr bauten Mitglieder der Gemeinde 1942/43 eine Mikwe in den Keller des Hauses ein ... " (S. 14). Dabei wird das Wissen vorausgesetzt, daß es sich bei einer Mikwe um ein jüdisches Ritualbad handelt. Ähnliches gilt für den Unterschied von "Tempel" (S. 157) und "Synagoge" (S. 110), der nirgends erläutert wird.

Probleme hat der Autor auch damit, wen er als Jüdin oder Jude bezeichnet. Besonders deutlich wird dies bei der Malerin Anita Rée. Es heißt: "Sie wurde am 9. Februar 1885 in eine wohlhabende Kaufmannsfamilie geboren, jüdisch von der Abstammung, evangelisch-lutherisch von der Konfession und hanseatisch von der Überzeugung." (S.


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57). Und an einer anderen Stelle, wo es um die Ablehnung eines ihrer Bilder durch den evangelischen Kirchenvorstand geht: "In der Ablehnung des Werkes spielten vermutlich auch antisemitische Vorbehalte eine Rolle, was die evangelische Christin Anita Rée hart traf." Ein paar Sätze weiter ist die Künstlerin wieder die "avangardistische jüdische Künstlerin" (S. 58).

Der Autor "schwimmt" an solchen Stellen und hat auch bei Heinrich Hertz (S. 16), Gustav Mahler (S. 31) und dem Thalia-Theaterdirektor Chéri Maurice seine Schwierigkeiten: "... und Chéri Maurice zwar aus einer jüdischen Familie stammte, aber Christ war ..." (S. 162). Hier zeigt sich, wie schwierig es ist, Menschen und ihre Biographien zuzuordnen. Meines Erachtens entgeht man solchen Fallstricken nur dann, wenn man die persönliche Entscheidung eines Menschen für oder gegen eine Religionsgemeinschaft akzeptiert und zum Maßstab macht, unabhängig davon, welcher Gemeinschaft er vorher angehört hat.

Inhaltlich läßt sich nur an wenigen Stellen über Bewertungen des Autors streiten - etwa wenn er zum "Joseph Carlebach-Platz", wo die Hauptsynagoge gestanden hat, behauptet, es sei 1988 mit der Umgestaltung "eine würdige Form des Gedenkens gefunden" worden (S. 112). Ebenso geht es mir, wenn er über das Polizeigefängnis Fuhlsbüttel, das von 1933 bis 1936 KZ gewesen war, diese Bezeichnung auch für die Zeit nach 1936 beibehält, um auf die grausamen Zustände dort hinzuweisen (u.a. S. 178f). Schwierigkeiten habe ich mit Sätzen wie diesem über das KZ Neuengamme: "Ziel war die Vernichtung der Juden und der ebenfalls verhaßten Zeugen Jehovas (die aus Gewissensgründen den Kriegsdienst verweigerten) durch Arbeit." (S. 101). Impliziert er doch, daß dies für andere Häftlingsgruppen nicht galt, und dies ist noch sehr zu differenzieren.

Doch nur selten fallen Texte wirklich inhaltsschwächer aus. So ist nicht von der Hand zu weisen, daß sowohl das Portrait der Ehefrau des Oberrabbiners Joseph Carlebach, Lotte Carlebach, als auch das von Martha Freud, der Ehefrau des Psychoanalytikers Sigmund Freud, zu sehr auf das Leben ihrer Männer hin beschrieben wird. Dies kann und wird aber wohl eher der Literatur- und Forschungslage geschuldet sein, denn der Sichtweise des Autors, der andere Frauen besser portraitiert (etwa Glückeln von Hameln oder Ida Ehre).

"Zum Weiterlesen" wird in der Regel unter anderen ein Buch aus dem Dölling und Galitz Verlag empfohlen; klar ist, daß dieser Verlag sich thematisch sehr zur Hamburger Zeitgeschichte in Publikationen äußert. Nur selten, aber um so ärgerlicher ist es, wenn dies zum Weglassen von Literatur führt: Zur Geschichte des KZ Neuengammes wird so etwa nur auf einen Artikel des Gedenkstättenleiters in einer aktuellen Publikation bei Dölling und Galitz hingewiesen, wohingegen das bisher einzige Standardwerk von Hermann Kaienburg (Das Konzentrationslager Neuengamme 1938 - 1945, hrg. vom der KZ-Gedenkstätte Neuengamme. Hamburg 1977) unerwähnt bleibt. Doch solche Stellen sind die absolute Ausnahme, und auch nur an einer weiteren Stelle fehlt eine Literaturangabe: bei der "Gedenkstätte Plattenhaus" vermißt man den Hinweis auf die Broschüre "KZ Sasel. Ge-


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schichte eines Außenlagers". (S. 138).

Die alphabetische, an den heutigen Straßennamen orientierte Ordnung der Artikel ist gewöhnungsbedürftig - auch deshalb, weil Karten(ausschnitte) zur besseren Orientierung fehlen. Zusammen mit einem Glossar zu wichtigen Stichwörtern des Judentums und seiner Geschichte in Hamburg - ähnlich wie es derselbe Verlag vorbildlich in seinem Buch "Martha H.: ein Frauenleben zwischen Hamburg und Holstein" vorgemacht hat - sind dies Ergänzungen, die in einer kommenden Neuauflage berücksichtigt werden könnten.

Zum Schluß möchte ich - trotz der zwischenzeitlichen Kleinstkritelei - nochmal betonen, daß der Stadtführer sehr lesenswert und allen Interessierten sehr zu empfehlen ist.

Jüdisches Leben in Hamburg. Ein Stadtführer von Frank Kürschner-Pelkmann mit Fotografien von Thomas Nagel. Hamburg: Verlag Dölling und Galitz 1997. 192 S.


Veröffentlicht in den Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte (Kiel) Heft 32 (Dezember 1997) S. 91-94.


Frank Omland, geboren 1967, ist Sozialpädagoge und in Hamburg bzw. Kiel bei der Organisation und Durchführung antifaschistischer Stadtrundgänge aktiv. Er arbeitet im Themenbereich Nationalsozialismus vorrangig zu den Aspekten Jugend, soziale Arbeit und Wahlen sowie zum Neofaschismus der Gegenwart.


Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte Heft 32

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