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Kriminalpolizei, Verbrechensbekämpfung und Zigeunermord

In der Reihe der "Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte" sind im Herbst 1996 zwei neue Bücher erschienen. Beide begeben sich in bisher wenig erforschte Gebiete der nationalsozialistischen Verfolgungspolitik. Die Themen erscheinen insofern von größerer politischer Relevanz, als die untersuchten Verfolgtengruppen im Nachkriegsdeutschland zum Teil bis heute vergeblich um ihre Anerkennung und Rehabilitierung als NS-Opfer kämpfen.

Es geht um die nationalsozialistische "Lösung der Zigeunerfrage", die von Michael Zimmermann unter dem Titel Rassenutopie und Genozid untersucht


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wurde, und um die Entwicklung der Verbrechensbekämpfung von der Weimarer Republik bis zum Ende des "Dritten Reiches", die Patrick Wagner unter dem Titel Volksgemeinschaft ohne Verbrecher dargestellt hat.

Die zeitgeschichtliche Forschung hat sich in den letzten Jahrzehnten im wesentlichen auf die Untersuchung der Institutionen konzentriert, in deren Verantwortung die Verfolgung und Vernichtung des europäischen Judentums, sowie die politische Verfolgung Andersdenkender lag. Dieses und auch eine Vielzahl eher opportunistischer Erwägungen verstellten den Blick insbesondere auf die Untersuchung der gewöhnlichen Schutz- und Kriminalpolizei des "Dritten Reiches". Die Untersuchung von Wagner schließt hier hinsichtlich der Kriminalpolizei die dringlichsten Forschungslücken.

Im Gegensatz zu gängigen Klischees lagen bei der Kriminalpolizei des "Dritten Reiches" zum einen erhebliche Zuständigkeiten, was die Verfolgung von Gruppen anging, die nicht in die "Volksgemeinschaft" paßten. Zum zweiten nahm die "klassische" Verbrechensbekämpfung im "Dritten Reich" Formen an, die jegliche Rechtsstaatlichkeit oder Gewaltenteilung leugneten.

In seinem Werk Die deutsche Polizei schrieb Werner Best 1941, es fehle eine ausdrückliche gesetzliche Ermächtigung der Polizei für Eingriffe gegenüber Einzelpersonen, die zur Durchführung der vorbeugenden Verbrechensbekämpfung notwendig sei. Nach der völkischen Rechtsauffassung seien aber Polizei und Einzelne dennoch zur umfassenden Verbrechensbekämpfung verpflichtet: "Der Auftrag an die Polizei, alle zur Verbrechensvorbeugung erforderlichen Maßnahmen zu treffen, verpflichtet zugleich die einzelnen Volksgenossen zur 'aktiven' oder 'passiven' Mitwirkung an diesen Maßnahmen; 'passiv' wirkt der Verbrecher mit, der in Vorbeugungshaft genommen wird. Dies ist die Rechtsgrundlage für die Durchführung der Verbrechensvorbeugung durch die Polizei." (S. 38)

Als "Verbrecher" Stigmatisierte waren hier nur noch soweit Mitglieder der Gesellschaft, als ihnen daraus die Verpflichtung konstruiert wurde, "passiv" an der Verbrechensvorbeugung mitzuwirken, also sich in Haft zu begeben. Die Inhaftierung von Verbrechern aufgrund eines Urteiles wurde überflüssig gemacht durch die Pflicht des Verbrechers als "Volksgenosse", sich in Vorbeugungshaft nehmen zu lassen. Die polizeiliche Tätigkeit diente hier nicht mehr der Durchsetzung eines Rechtssystems, sondern der Durchsetzung eines völkischen Ordnungsprinzips.

Patrick Wagner untersucht in seiner Studie die Entwicklung der Kriminalpolitik von der Weimarer Republik an bis zur von Best formulierten endgültigen Umkehrung von Rechtsstaatlichkeit. Das Ergebnis ist erstaunlich: Ursache der Entwicklung war weniger die Durchsetzung nationalsozialistischer Leitvorstellungen durch die Rassetheoretiker des "Dritten Reiches", als vielmehr die Kriminalpolizei selbst, die von den "Fesseln" des bürgerlichen Rechtsstaats befreit nach 1933 ungehemmt ihre Ordnungsvorstellungen umsetzen konnte.

Der eigentlich innovative Modernisierungsschub erfolgte aber nach Wagner bereits "während und durch die Weimarer Republik" (S. 40). So ist die "vorbeugende Verbrechensbekämpfung", die in der massenhaften Zwangseinweisung


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von als "Berufsverbrecher" und "Asoziale" Stigmatisierten in Konzentrationslager mündete, lediglich die Umsetzung von Forderungen konservativer Kriminaltheoretiker der Weimarer Republik.

Die Frage nach den Kontinuitäten wird von Wagner neu gestellt: Es geht hier um die Kontinuität von Weimar zum "Dritten Reich":

Die Polizei der Weimarer Republik sah sich einer zunehmenden Kriminalität gegenüber, die sie weniger mit der ökonomischen Situation der Bevölkerung in Verbindung brachte, als mit "verbrecherischen Veranlagungen" von einzelnen Menschen. Damit erschien die "Verwahrung" bestimmter Personenkreise als das beste Mittel zur Bekämpfung von Kriminalität.

Eben diese Bilder ließen sich bestens mit den nationalsozialistischen "Rasse"-Vorstellungen kombinieren. Ergebnis war ein Raster von Personengruppen mit dem gemeinsamen Nenner, daß sie nicht in das Bild der "Volksgemeinschaft" paßten und entsprechend als "Gemeinschaftsfremde" oder "-feinde" stigmatisiert wurden. Die Arbeit der Kripo veränderte sich nach 1933 dahingehend, jene Personengruppen zu erfassen, die nicht den Normen der "Volksgemeinschaft" entsprachen, und ihnen zunehmende Beschränkungen aufzuerlegen, bis sie letztendlich in Konzentrationslagern verschwanden.

Es ist bezeichnend, daß dieser Aspekt nationalsozialistischer Unterdrückungspolitik erst so spät zum Gegenstand zeitgeschichtlicher Forschung wurde. Wagner benennt hierfür zwei Gründe:

Zum einen war "die Perspektive vieler Historiker von der Empathie für die aus politischen Gründen Verfolgten geprägt" (S. 10). In deren Erinnerungen und Berichten aus den Konzentrationslagern tauchen "Asoziale" und "Berufsverbrecher" als Verbündete der Lager-SS auf. Kogon beispielsweise schrieb in Der SS-Staat in diesem Zusammenhang von "üblen, zum Teil übelsten Elementen" (S. 68). "Infolgedessen" - so Wagner - "drängt es sich als Thema nicht gerade auf, nach den Gründen zu fragen, die diese Menschen ins Lager gebracht hatten." (S. 10)

Zum zweiten wurde die mangelnde historische Forschung von den Protagonisten der Kripo genutzt, die Geschichte der Kripo im Nationalsozialismus selbst zu schreiben und sich von Verfolgern zur "verfolgten Unschuld" (Wagner, S. 10) umzudefinieren. Dies wurde sicherlich auch dadurch unterstützt, daß die Bilder von diesen verfolgten Gruppen auch in der Nachkriegsgesellschaft negativ blieben und die Begriffe "Asozialität" und "Berufsverbrechertum" bis heute im gesellschaftlichen Diskurs unhinterfragt weiterverwendet werden.

Zur unzureichenden Aufarbeitung des Themas trug sicherlich auch der Umstand bei, daß bei einer kritischen Überprüfung kriminalpolizeilicher Praxis im "Dritten Reich" weite Teile der Führungselite der Nachkriegs-Kripo als NS-Täter entdeckt worden wären.

Wagners Buch schließt nicht nur wichtige Forschungslücken. Es gibt auch eine Vielzahl detaillierter - und immer wieder spannender - Einblicke in den kriminalistischen Alltag der Weimarer Republik. Vor allen Dingen aber zeichnet er die Eigendynamik einer Behörde sowie die sich verändernde Wahrnehmung ihrer Mitarbeiter in der untergehenden Weimarer Republik nach. Dieses ist nicht zuletzt anregend


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auch für die Betrachtung des derzeitigen gesellschaftlichen Diskurses über Kriminalität.

Die wesentliche Schwäche, die Wagners Buch hat, wird von ihm selbst in der Einleitung bereits benannt: Es ist keine allgemeine Geschichte der Kriminalpolizei der Weimarer Republik und des "Dritten Reiches", und damit bleiben für die an der Geschichte der Kripo Interessierten zwangsläufig viele Fragen offen. Wagner konzentriert sich lediglich auf einen - zentralen! - Punkt: Es ist die Geschichte einer ihrer eigenen Logik folgenden Behörde, die - ohne die Ursachen geschweige denn den Begriff des Verbrechens zu hinterfragen - "das Verbrechen" mit polizeilichen Mitteln zu bekämpfen versucht. Der ursprüngliche Titel von Wagners Dissertation, "Kommissar Sysiphus träumt vom letzten Fall", ist da sicher treffender.

Anders gelagert ist die Forschungsarbeit von Michael Zimmermann. Seine Untersuchung konzentriert sich auf die Geschichte einer Verfolgung. Wie bei Wagner stehen auch bei Zimmermann die "Verfolger" im Mittelpunkt. Umfangreich untersucht der Autor die Motive, die Entwicklung und den Verlauf der nationalsozialistischen "Lösung der Zigeunerfrage". Hierbei entstand die wohl umfassendste und genaueste Arbeit, die es zu diesem Thema gibt. Zimmermann untersucht nicht nur die Verfolgung von Zigeunern im "Dritten Reich" selbst, sondern auch die deutlich anders gelagerte Verfolgung und Vernichtung in den von Deutschland während des Krieges besetzten Gebieten.

Daß der Autor die Bezeichnung "Zigeuner" verwendet, geschieht bewußt, da deren Bedeutung vielgestaltiger ist als Begriffe wie "Roma und Sinti". Gerade die unterschiedlichen Inhalte des deutschen Zigeunerbegriffs erklären die beiden Entwicklungsstränge der Zigeunerverfolgung im Nationalsozialismus. Die Verfolgung von "Zigeunern und nach Zigeunerart lebenden Personen", wie es exakt im NS-Deutsch hieß, verlief auf zwei Ebenen, die sich erst zu Ende der dreißiger Jahre trafen. Einerseits waren Zigeuner aufgrund ihrer sozialen Unangepaßtheit bereits traditionell im Visier staatlicher Verfolgungsbehörden. Dieses führte im "Dritten Reich" zu einer Verfolgung im Rahmen der oben bereits beschriebenen vorbeugenden Verbrechensbekämpfung als "Gemeinschaftsfremde" bzw. schlicht "Asoziale".

Gleichzeitig wurde nach umfangreichen Untersuchungen der Rassehygienischen Forschungsstelle Robert Ritters eine Verfolgung eingeleitet, deren Grundlage eine festgelegte Rassezugehörigkeit war. In der Absurdität des Rassewahns wurden den "Zigeunermischlingen" eine größere Gefahr für die Volksgemeinschaft nachgesagt und ihre Deportation vorrangig betrieben, während "reinrassige Zigeuner" zeitweilig von der Verfolgung ausgenommen waren. Dieses änderte sich erst mit dem "Auschwitz-Erlaß" Himmlers von 1942, der den Genozid aller Zigeuner einleitete.

Derartige Differenzierungen wurden in den von Deutschland besetzten Gebieten gar nicht erst vorgenommen. Uralte Klischees von bettelnden oder spionierenden Zigeunern reichten für Wehrmacht, Einsatzgruppen und Polizei als Rechtfertigung für Massenerschießungen.

Die Forschungsarbeit Zimmermanns bearbeitet das Thema so exakt und fun-


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diert, wie es bisher nicht geschehen ist. Material aus mehr als sechzig Archiven wurde verwertet, hauptsächlich Dokumente der Verfolger, deren Sprache und Duktus immer wieder kritisch reflektiert wird. Heraus kam das Grundlagenbuch für alle, die sich künftig mit der Verfolgung von Roma und Sinti im "Dritten Reich" beschäftigen wollen.

Stephan Linck

Michael Zimmermann: Rassenutopie und Genozid. Die nationalsozialistische "Lösung der Zigeunerfrage". Hans Christians Verlag, Hamburg 1996. 574 S.

Patrick Wagner: Volksgemeinschaft ohne Verbrecher. Konzeptionen und Praxis der Kriminalpolizei in der Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus. Hans Christians Verlag, Hamburg 1996. 544 S.


Veröffentlicht in den Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte (Kiel) Heft 30 (Dezember 1996) S. 83-87.


Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte Heft 30

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