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Den Opfern die Namen zurückgeben

In Schleswig-Holstein hat es nur wenig Juden gegeben, und als Ergebnis der systematischen Verfolgung und Vernichtung im Nationalsozialismus sind sie nahezu spurlos aus dem Bewußtsein der Bewohner dieses Landes verschwunden. Nur zaghaft waren bisher die Versuche zur Rekonstruktion dieses Teils schleswig-holsteinischen Lebens, der vor nicht langer Zeit selbstverständlich war und heute so unvorstellbar weit entrückt ist. Fast hat das oft unfreiwillige, mitunter aber auch vorgetäuschte Vergessen der jüdischen Bürger letzte Spuren ihrer Existenz völlig verwischt.

Licht auf diese lange ausgeblendete, verweigerte Historie wirft nun ein Gedenkbuch ganz besonderer Art: Ein Memorbuch versammelt 1635 Namen von jüdischen Einwohnern Schleswig-Holsteins, die Opfer der Schoa wurden. In mühsamer Arbeit sind diese Namen zusammengetragen, überprüft, verglichen worden, haben bislang unbekannte Opfer zumindest den Namen wiederbekommen, um sie vor dem Vergessen und damit der spurlosen Auslöschung ihrer Existenz zu bewahren.

Auf Namen, Geburtsdaten und Lebensorte - Eckdaten individueller Lebensentwürfe - folgen Stätte und Datum der Deportation, des Todes, Daten des Zwanges, Orte des Elendes und der Gewalt. 16 Namen tragen ein Sternchen; es ist ein vager Hinweis, daß diese 16 Menschen vielleicht doch die Verfolgung überlebt haben. 16 unter 1635.


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Hinter den Namen bleiben die Menschen einstweilen unkonkret, ihre Gesichter und Geschichten verborgen. Doch dafür haben die Ortsnamen eine eigentümliche, unerwartete Wirkung: Neumünster, Flensburg, Heide - das klingt vertraut. Gewiß, daß es in Kiel, Lübeck und Rendsburg, in Friedrichstadt, Elmshorn und Glückstadt jüdische Gemeinden gab, ist bekannt. Doch auf Bad Segeberg, Heiligenhafen und Plön zu stoßen, auf Kappeln und Lunden, Hattstedt, Westerland und Ahrensburg - das überrascht. In diesen und weiteren Orten Schleswig-Holsteins haben Juden gelebt, hat es Diskriminierung und Verfolgung jüdischer Bürger gegeben. Und in vielen dieser Orte hat sich Hitlers verbrecherische Politik vollzogen, mit Unterstützung oder doch vor den Augen der Bevölkerung, mochten sie ihre Blicke auch abwenden. Reinbek, Bad Schwartau, Schönberg - Stätten jüdischen Lebens, die wiederzuentdecken sind.

Mit dieser dichten Reihe von Namen verliert die Landkarte jüdischen Lebens in Schleswig-Holstein nicht nur weiße Flecken, sie wächst auch über die eigentlichen Landesgrenzen hinaus: andere Namen kommen hinzu, Riga, Minsk und Lodz, Auschwitz, Theresienstadt - immer wieder diese Namen. Auch Deportationsziele, Ghettos, Vernichtungslager waren Orte schleswig-holsteinischer Geschichte, sind es jetzt und für alle Zukunft. Wer die Geschichte, die hier im Norden ihren Anfang und Verlauf nahm, an den Landesgrenzen aus den Augen verliert, verleugnet das Leben und Sterben dieser Menschen und verweigert ihnen Identität und Andenken.

Das Memorbuch ist ein lange überfälliger Schritt, damit nach über 50 Jahren Hitlers Menschenverachtung nicht doch noch triumphiert. Zumindest ihre Namen werden einigen dieser vernichteten Menschen nun zurückgegeben. Jüdisches Leben in Schleswig-Holstein bekommt hier Konturen in letzten, fast verwischten Spuren. Und zahlreichen Hinweisen auf weitere jüdische Einwohner ist noch nachzugehen.

Der Aufstellung bisher bekannter Opfer sind neben literarischen Texten auch eine Faksimile-Reproduktion des Israelitischen Kalenders für Schleswig-Holstein des Jahres 1927/28, ein Beitrag zur "Geschichte der Juden in Burg auf Fehmarn" von Joseph Carlebach sowie eine von Bernd Philipsen zusammengestellte Auswahlbibliographie beigegeben.

Kay Dohnke

Memorbuch zum Gedenken an die jüdischen, in der Schoa umgekommenen Schleswig-Holsteiner und Schleswig-Holsteinerinnen. Hrg. von Miriam Gillis-Calebach für den Verein jüdischer ehemaliger Schleswig-Holsteiner und Schleswig-Holsteinerinnen in Israel. Hamburg: Dölling und Galitz Verlag 1996. 159 S.


Veröffentlicht in den Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte (Kiel) Heft 30 (Dezember 1996) S. 77-78.


Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte Heft 30

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